Das verlassene Boot am Strand
hochheben können, ohne ihn sich auf die Zehen fallen zu lassen.«
»Er ist kleiner als Sie.«
»Das sind die meisten Männer«, sagte der Kapitän stolz. »Er ist vielleicht halb so groß wie Sie. Und er ißt bestimmt nicht viel.«
»Bring' diesen Pater das nächste Mal mit, damit ich ihn mir ansehen kann, und das mit dem Essen bezweifle ich. Ich hab' noch keinen Pater erlebt, der nicht spielend einen Ochsen hätte aufessen können.«
»Er heißt Pater Vinzenz«, sagte ich.
»Es ist mir völlig egal, wie er heißt, er soll nicht seekrank werden und rudern können.«
Ich wußte nicht, wie es damit bei Pater Vinzenz stand, aber ich sagte: »Er ist sehr mutig.«
»Mut ist immer gut«, sagte der Kapitän.
»Ich werde ihn mitbringen, und dann können Sie es selber sehen«, sagte ich.
»Mut kann man nicht sehen«, sagte der Kapitän. »Aber bring ihn ja nicht mit, wenn er einen Bauch hat, auch wenn es nur ein kleiner ist. Einen Bauch kann man nämlich sehen, und ich weiß, was er bedeutet.«
Kapitän Nidever hatte selber einen Bauch, aber er war ein großer, starker Mann. Pater Vinzenz hatte keinen Bauch, nicht einmal einen kleinen, aber er war nicht sehr stark.
»Ich bringe ihn mit«, sagte ich.
Als Antwort tippte er grüßend an seinen Hut und ritt davon.
12
In der nächsten Woche besuchte ich gemeinsam mit meinen Freundinnen Rosa und Anita Kapitän Nidever.
Es war ein windiger Tag, aber die Sonne war hell und heiß. Es war Ebbe, und wir gingen am Strand entlang, bis wir auf Kapitän Nidever stießen, der an seinem Boot arbeitete. Es sah schon ganz anders aus.
»Sie haben viel gearbeitet«, sagte ich.
»Den schwierigsten Teil hab' ich hinter mir. Der Rest ist kein Problem mehr«, antwortete der Kapitän.
»Ich bin gekommen, um zu fragen, wie groß das Segel werden soll«, sagte ich.
Kapitän Nidever besaß ein langes Band mit Markierungen, das er zum Messen benutzte. Er maß an einer Schnur und schnitt zwei Stücke von einem Knäuel ab und gab sie mir. »Das kürzere Stück ist die Breite des Segels oben, und das lange Stück ist die Breite unten. Das Segel soll fast quadratisch werden und ungefähr dreimal so lang wie du groß bist.«
Rosa und Anita wären noch gerne dageblieben, um dem Kapitän bei der Arbeit zuzuschauen, aber die Flut setzte ein, deshalb mußten wir uns auf den Rückweg machen.
Es gab einen Pfad zur Missionsstation, aber er war staubig und um diese Jahreszeit gab es da eine Menge Klapperschlangen. Sie wärmten sich auf den Steinen. Sie waren ziemlich träge, zu faul, um zu fliehen. Sie waren deshalb gefährlicher als sonst. Nur im Spätfrühling, wenn sie sich häuteten und blind waren, waren sie noch ärger. Manchmal hatte ich den Eindruck, alle Klapperschlangen von ganz Kalifornien lebten in unseren Bergen, weil es hier so sonnig war. Es gab die verschiedensten Arten von Klapperschlangen: manche waren bräunlich, andere grau wie Granit und wieder andere hatten schwarze Karos auf dem Rücken.
Wenn sie nicht gerade blind und träge waren, flohen die Klapperschlangen vor den Menschen, aber ich hatte, wie die meisten Leute, Angst vor ihnen.
Wir drei Mädchen gingen lieber am Strand entlang heim; dieser Weg war zwar länger, aber es war noch hell, als wir nach Santa Barbara kamen. An diesem Abend begann ich mit dem Segel. Rosa und Anita versprachen, mir zu helfen, aber mir wäre es eigentlich lieber gewesen, das Segel alleine zu weben. Am liebsten wäre ich ja allein zur Insel der blauen Delphine gesegelt. Obwohl ich meine Tante Karana noch nie gesehen hatte, liebte ich sie sehr und wollte sie mit niemandem teilen. Ich war damals sehr selbstsüchtig. Ich bin immer noch selbstsüchtig, aber nicht mehr so arg.
Weil Pater Vinzenz uns den Nachmittag frei gegeben hatte, mußten wir an diesem und am nächsten Abend eine Stunde länger in der Küche arbeiten. Am nächsten Morgen mußten wir zusätzlich zwei Stunden in die Werkstatt, wo Gegenstände angefertigt wurden, die die Mission an die Gringo-Händler verkaufte.
Deshalb konnten wir erst zwei Tage danach an dem Segel aus Schilf und Weiden weitermachen.
Etwa eine Woche später war es fertig, und wir brachten es Kapitän Nidever. Das Segel hätte genau gepaßt, aber er hatte es sich inzwischen anders überlegt und wollte es doch etwas kürzer haben. Wir schnitten es an den Rändern zurecht und faßten es mit fester Schnur neu ein.
Pater Vinzenz war mit uns gekommen. Er fragte Kapitän Nidever: »Und Sie glauben, daß es gut
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