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Das verlassene Boot am Strand

Das verlassene Boot am Strand

Titel: Das verlassene Boot am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott O'Dell
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spreche.«
    »Ja, das weiß ich genau«, antwortete ich.
    Nun brauchte mich »Steinerne Hand« nicht mehr zu fragen, wo ich geboren war, wenn ihm sonst nichts einfiel. Ich hätte ihm das alles auch schon früher erzählt, wenn es nicht so schrecklich gewesen wäre, daran zu denken und es laut auszusprechen.
     

l6
     
    Die fiesta war vorüber, und alle gingen zu Bett und warteten darauf, daß die Glocke im großen Turm zehn schlug. Als dieses Signal kam, standen wir leise auf. Die Mädchen - wir waren neunundfünfzig - rollten ihre Decken zu festen Rollen zusammen. Ich ging zur Tür, die in den Flur und hinunter in den Garten führte.
    Ich schob den Schlüssel in das Schloß und fürchtete, daß er zwar hineinpaßte, sich aber nicht herumdrehen lassen würde; ich hantierte lautlos und vorsichtig.
    Die Tür quietschte wie immer, aber sie öffnete sich. Die Mädchen gingen auf nackten Füßen leise hinaus und die Treppe hinunter. Dann schloß ich den Schlafsaal der Jungen auf, obwohl ich mit ihrem Plan nicht einverstanden war. Die Jungen hatten schon gewartet und kamen schnell und nicht ganz so lautlos wie die Mädchen heraus. Einen Augenblick später hörte ich sie unten im Hof, das Geräusch von nackten Füßen, die sich entfernten.
    Ich legte mich wieder ins Bett und versteckte den großen Schlüssel unter meinen Decken. Ich wollte am Morgen an den Strand gehen und ihn ins Meer werfen.
    Nachdem unsere Leute so problemlos aus dem Haus gekommen waren, hatte ich ein gutes Gefühl, daß das Unternehmen gelingen werde. »Steinerne Hand« hatte mir erzählt, daß er den weißen Aufsehern - zwei Männern und zwei Frauen - während der fiesta ein Pulver in die Trinkgläser geschüttet hatte. Das Pulver bestand aus getrockneten und gemahlenen wilden Kräutern, die in den Bergen wuchsen, und ein klein wenig davon genügte, um jemanden in tiefen Schlaf zu versetzen. Hinterher wachte man zwar mit Kopfschmerzen auf, aber sonst schadete es nicht weiter.
    Den fünf Patres hatte »Steinerne Hand« kein Pulver in die Getränke gegeben, denn sie schliefen in einem Haus für sich, das ein gutes Stück von unseren Schlafsälen entfernt stand. Deshalb konnten sie auch nichts hören.
    Die Sache kam erst auf, als es Zeit für das Frühstück war und nur die alten Frauen und Männer in den Speisesaal kamen. Die meisten Tische blieben leer. Es gab eine große Aufregung. Die alten Leute fürchteten »Steinerne Hand« und schwiegen beharrlich, als Pater Merced sie ausfragen wollte. Dann wandte er sich an mich.
    »Weißt du, wohin sie gegangen sind?« fragte er.
    »Nein«, antwortete ich, und das war die Wahrheit.
    »Warum haben sie uns verlassen? Wir behandeln sie doch gut. «
    »Weil sie gewöhnt sind, auf andere Weise zu leben. «
    »Sie leben also lieber im Elend? In Laubhütten oder am Strand, ohne Dach über dem Kopf? Und wissen nicht, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollen? Sie wollen nicht im Glauben an Gott leben, sondern mit dem Teufel?«
    Pater Merced war ein ernster Mann mit einer Brille, der viele Bücher las und oft viele Stunden lang betete. Er hatte weißes Haar, das wie Stoppeln steif auf seinem ganzen Kopf hochstand, auch rund um die kahle Stelle der Tonsur.
    »Sie ziehen also dieses Leben vor?« schloß er.
    »Es scheint so«, antwortete ich.
    Er schaute mich durchdringend an. »Und warum bist du noch hier? Warum bist du nicht mit ihnen gegangen, da du doch ihre Ansichten teilst?«
    Ich weiß nicht, was ich darauf geantwortet hätte, jedenfalls nicht die ganze Wahrheit. Aber in diesem Augenblick trat Kapitän Cordova ein. Er war der Kommandant der Garnison voller Möchtegernsoldaten, welche die Mission beschützen sollten, und die wie Schmarotzer von unserer Arbeit lebten.
    Er verbeugte sich vor Pater Merced: »Ich habe die Neuigkeit eben erfahren und bin sofort mit zehn Männern aufgebrochen. Ich kann Ihnen versichern, daß wir sie vor dem Abend alle wieder haben. «
    Kapitän Cordova drehte sich zu mir um. Er war klein und untersetzt und trug Stulpenstiefel, die ihm bis zu den Hüften hinauf reichten. Er hatte auch ein cuero , ein Lederwams an, das jeden Pfeil abprallen ließ. Er hatte aus Respekt vor Pater Merced seinen silbernen Helm abgenommen und hielt ihn vor der Brust.
    »Was weißt du?« fragte er.
    »Sie weiß nichts«, antwortete Pater Merced an meiner Stelle.
    »Ist sie taub?«
    »Nein«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, wo sie sind.«
    »Hast du etwas von dem Plan gewußt? Hast du gestern etwas

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