Das verletzte Gesicht
mitleidig vom Nachbartisch herübergestarrt hatten. „Du hast keine Ahnung, wie es ist, grotesk hässlich zu sein und es leidend zu akzeptieren. Dann bekommt man plötzlich eine Chance, das zu ändern. Auf einmal ist man jemand. Wenn einem all das an einem Tag wieder genommen wird, ist das grausam. Wenn dir jemand sagt, tut mir Leid, es ist vorbei, es war alles nur ein Traum – möchtest du nicht mehr aufwachen.“
„Hör mir zu, Charlotte.“ Er nahm ihre Hände. „Schönheit, das ist nicht nur ein schönes Gesicht. Ich habe Menschen, die ich liebte, gut aussehende, gesunde Männer, vor meinen Augen verfallen und sterben sehen. Ihre schönen Gesichter wurden von der Krankheit gezeichnet und zerstört. Für mich blieben sie trotzdem schön. Mir wäre nie eingefallen, sie zu verlassen, weil sich ihre Gesichter verändert hatten.“
„Michael könnte mich nicht so lieben.“ Damit hatte sie ihre schlimmsten Ängste ausgesprochen. Ihre Schönheit zu verlieren, war eine Sache. Michael zu verlieren, eine andere. Das war unvorstellbar.
„Er kann. Die Liebe, die Michael für dich empfindet, hat nichts mit oberflächlicher Schönheit zu tun“, munterte er sie sanft lächelnd auf. „Du wirst ihn nicht verlieren. Er versteht, wie schwer das alles für dich ist, zumal er weiß, was du schon alles durchgemacht hast.“
„Er weiß es nicht“, gestand sie beschämt. „Ich habe es ihm nie erzählt. Weder von dem Eingriff noch das andere. Ich habe den richtigen Moment verpasst, und irgendwann war es dann zu spät.“
Bobby runzelte die Stirn und legte seine gefalteten Hände an die Lippen. „Er weiß nichts von der Deformierung und von dem chirurgischen Eingriff?“
Sie schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“
Bobbys Optimismus bezüglich Michaels Reaktion geriet offenbar ins Wanken, was ihre Ängste nur verstärkte. „Er wird zornig sein, weil du es ihm verschwiegen hast.“
„Weil ich gelogen habe.“
„Du hast nicht gelogen.“
„Nicht die Wahrheit zu sagen ist eine Art von Lüge.“
Bobby wandte den Blick ab. „In gewisser Weise vielleicht.“
„Entschuldige, das sollte keine Anspielung sein.“
„Das wissen wir beide“, wehrte er ihre Entschuldigung ab. Er dachte nach und sah dabei, dass die Kerze bis auf den Hals der Weinflasche, in dem sie steckte, heruntergebrannt war. Plötzlich blickte er entschlossen auf. „Erzähl es ihm. Sofort. Heute Nacht noch. Wenn du es weiter hinauszögerst, machst du es nur schlimmer. Er hätte dann den Eindruck, du schweigst, weil du ihm nicht traust.“
„Ich habe große Angst davor. Wenn er mich zurückweist, wäre das unerträglich für mich. Dann würde ich sowieso sterben.“
„Das wird er nicht. Schau doch, wie er sich zu mir verhält. Er hat seine Eigentumswohnung in Chicago verkauft und sein Leben dort aufgegeben, um meine Behandlung zu bezahlen und bei mir zu bleiben. Nun gut, ich bin sein Bruder, und er liebt mich, so unliebenswert ich manchmal auch sein mag.“ In seinen Augen blitzte es lustig auf, doch er wurde gleich wieder ernst. „Würde er für dich denn weniger tun? Gib ihm den Respekt und das Vertrauen, das er verdient. Lass ihn seine Liebe beweisen. Schließlich will jeder Mann für seine Angebetete der Ritter in schimmernder Rüstung sein. Sag ihm die Wahrheit!“ Bobby flehte fast.
Sie blickte in das Licht der herunterbrennenden Kerze und fragte sich, ob durch den möglichen Verlust von Schönheit und Karriere vielleicht endlich das wahr wurde, was sie sich immer gewünscht hatte. Dass man sie nicht nach der äußeren Erscheinung beurteilte, sondern sie als den Menschen liebte, der sie war.
Als Michael später am Abend von einer Ortsbesichtigung heimkehrte, war sein Gesicht freudig erhitzt. Er zog Charlotte in die Arme, tätschelte ihr den Po und küsste sie fest auf den Mund.
„Ich habe ein Riesengeschäft gemacht“, erklärte er und schenkte ihnen zwei Gläser von dem mitgebrachten Champagner ein. „Ich habe nicht nur einen Auftrag für Gartengestaltung an Land gezogen, sondern auch noch einen zum Umbau des dazugehörigen Hauses, damit man einen besseren Blick über den von mir entworfenen Garten bekommt. Endlich fügt sich für mich alles zusammen. Ich kann beides machen, Haus und Garten gestalten. Verstehst du, was das bedeutet? Es ist, als würde sich ein Kreis schließen. Endlich fließen meine Tätigkeiten auf verschiedenen Feldern ineinander. Ha, das macht Spaß.“
Es brach ihr fast das Herz, ihn so glücklich zu sehen.
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