Das verletzte Gesicht
außer einem natürlichen Talent vor allem die Freude an der Arbeit, die mich so gut macht. Mein Freund Junichi wartet nur noch auf die Schanklizenz, dann will er ein neues japanisches Restaurant eröffnen. Es ist viel passiert, seit du weg bist. Die Docks haben sich wunderbar entwickelt. Junichi hat schöne japanische Stühle und Tische entworfen, damit die Leute draußen ihr Sushi naschen und dabei den Sonnenuntergang betrachten können.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Es wird bestimmt ein Erfolg. Die Sterne stehen gut, und die Kunden klopfen schon an die Fenster, während wir noch drinnen arbeiten, und fragen, wann wir eröffnen. Du bist natürlich unser erster Gast.“
„Natürlich. Ich kann es kaum erwarten. Ich bin froh, dass ich die Eröffnung nicht verpasst habe.“
„Was heißt ‚verpasst‘? Wir hätten niemals ohne dich eröffnet. Du bist Teilhaberin.“
„Eine stille.“
„Wie auch immer.“
„Du verbringst auch außerhalb der Arbeit eine Menge Zeit mit Junichi?“
Melanie furchte leicht die Stirn und wurde ausweichend. Sie war vorsichtiger geworden, weniger überschwänglich und arbeitete konzentriert an ihrer Ausbildung. Humor und Esoterik-Ideale waren ihr nicht abhanden gekommen, aber sie hatte auch eine neue, hart erkämpfte Selbstachtung erworben. Sie warf sich nicht mehr leichtfertig weg. Charlotte dachte daran, mit welch leuchtenden Augen Melanie im letzten Winter ihren wunderbaren Sushi-Lehrer Junichi Takamoto beschrieben hatte.
„Wir sind gute Freunde“, erklärte sie und wandte den Blick ab. „Er ist sehr sexy. Keine große Sache.“
Charlotte zog skeptisch die Stirn kraus.
„Na ja“, räumte sie ein, „möglicherweise ist er doch eine große Sache. Er ist etwas Besonderes. Er ist anders als die Männer, die ich kannte. Er behandelt mich anders. Du weißt schon, er öffnet mir die Türen, nimmt meinen Arm, wenn wir eine Straße überqueren, oder legt einen Arm um meine Taille, wenn wir beieinander stehen. All das, was Michael auch bei dir macht. Jeder träumt wohl davon, jemand zu finden, der dich liebevoll behandelt.“
„Und den hast du in Junichi gefunden?“
Melanie zuckte lächelnd die Schultern. „Ich möchte nicht zu viel verraten. Ich gehe die Sache langsam an. Sagen wir mal so, als ich sah, was er in seinem Einkaufswagen hatte, wusste ich, dass es Hoffnung für mich gab.“
„In seinem Einkaufswagen?“
„Der Inhalt des Einkaufswagens verrät einiges über den Menschen, der ihn schiebt. Wenn ich jemand mit jeder Menge Bier und tiefgefrorenen Hamburgern sehe, bin ich bedient. Der reine Stubenhocker. Bei Fischstäbchen laufe ich in die entgegengesetzte Richtung davon.“ Sie schauderte.
Charlotte lächelte. „Okay, du machst mich neugierig. Was hatte Junichi in seinem Wagen?“
„Lachs. Baguette. Eine Dose Hundefutter. Und eine gute Flasche Wein.“
„Ich muss noch viel lernen.“
„Zu spät für dich, Kleines. Bei dir gibt’s nur noch Tortillas und Bohnen. Apropos. Hast du Michael schon angerufen?“
„Nein. Ich bin gerade erst gekommen.“
„Tu mir einen Gefallen, und ruf ihn an. Er hat sich hier fast jeden Tag gemeldet und verzweifelt versucht, dich zu erreichen. Er fragte, wann du zurück sein würdest, und fluchte sogar auf Spanisch, was ich nicht von ihm gewöhnt bin. Sonst ist er doch der ruhige starke Typ. Eigentlich überrascht es mich, dass er nicht schon hier ist.“
Ein Lächeln zuckte um Charlottes Mund. „Er hat verzweifelt versucht, mich zu erreichen?“
„Kann man wohl sagen. Wenn er dieses Haus nicht gebaut hätte, hätte er es wohl abgerissen, um zu sehen, ob du wirklich nicht da bist.“
Charlotte langte nach dem Telefon und wählte mit zittrigen Fingern seine Nummer. Beim dritten Klingeln hörte sie Michaels Stimme auf dem Anrufbeantworter. Sie seufzte enttäuscht, doch allein seine Stimme zu hören, war anregend. Als die Ansage endete und der Piepton erklang, fuhr sie sich über die Lippen, nicht sicher, was sie nach all der Zeit sagen sollte.
„Michael … ich bin’s. Ich bin zurück.“ Ihr versagte die Stimme. Sie wollte schon auflegen, als sie es klicken hörte.
„Charlotte?“ fragte er eindringlich.
„Ja.“
„Ich bin unterwegs.“
Als wenig später die Türglocke läutete, fühlte Charlotte sich besser. Im Seidenkleid von Versace, das Haar zu einem lockeren Knoten geschlungen und kunstvoll aufgelegtes Make-up gaben ihr Sicherheit. Ein letzter Blick in den Spiegel verriet den nackten
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