Das Verlies der Stuerme
wissen.«
»Noch vor der Dunkelheit. Kommt darauf an, was der Wind macht.«
Als hätte der es gehört, schlug er ihnen plötzlich mit vermehrter Wucht entgegen. Krampfhaft krallte sich Ben fest, um nicht davongeblasen zu werden, und hörte Yanko fluchen, Nica schreien und nichts von Anula. Schnell drehte er sich um. Ihre offenen Haare flatterten wild, und sie presste sich ganz nah an Marmarans Schuppen, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten. Erleichtert lächelte Ben und drehte sich wieder um, schmiegte sich an den Drachenhals.
Ben genoss den Wind, er mochte es schon am Boden, wenn jeder Schritt mehr Kraft kostete, wenn er durchgeschüttelt wurde und torkelte und dieser Gewalt dennoch trotzte. Wenn er gegen allen Widerstand vorankam. Hier oben empfand er dieses Glück noch stärker, denn im Flug zerrten die Winde viel heftiger an seiner Kleidung. Weder Häuser noch Bäume noch sonst etwas bremsten seine Kraft, doch Aiphyron flog unbeschadet weiter. Mit ihm fühlte sich Ben unbesiegbar. Er verspürte nicht die geringste Angst, herunterzufallen. Sollte ihn tatsächlich eine Bö erfassen, würde Aiphyron ihn im Sturz auffangen.
Graue Wolken rollten am Himmel heran wie aus dem Nichts, der Wind wandelte sich zu einem richtigen Sturm, der immer wieder die Richtung änderte. Ben sah hinunter auf die Wellen, die höher und höher schlugen; sie waren schon lange nicht mehr strahlend blau, sondern schmutzig und dunkel. Und da, weit vor ihnen, inmitten des tosenden Ozeans, erhob sich eine kleine Insel, auf der eine trutzige Festung mit zahlreichen Türmen stand. Schon wollte Ben rufen, wer da wohl wohne, so abseits aller anderen Siedlungen, als er noch etwas anderes bemerkte, keine Meile von der Insel entfernt. Dort wurde ein Schiff, so fern, dass es wirkte wie von einem Kind geschnitzt, vom Sturm in Stücke gerissen. Der letzte Mast knickte eben um und wurde fortgespült.
»Da!«, schrie Ben, doch er deutete nicht hinüber, wollte seinen Griff nicht lockern.
Aiphyron verstand trotzdem, nickte und warf sich entschlossen in den Wind. Mit kräftigen Flügelschlägen tauchte er zwischen die tobenden Böen und kämpfte sich an das geborstene Schiff heran. Viel war nicht mehr von ihm übrig.
Ein zerfetztes Segel trieb auf den Wellen dahin, der Hauptmast war längst zersplittert und nun nicht mehr zu sehen, der ganze Rumpf bereits in der Tiefe versunken. Nur hie und da tanzten Bruchstücke der Planken, leere Fässer oder eine ausgerissene Kabinentür über die wütenden Wellen. Überlebende Seeleute waren nirgendwo zu sehen, doch Bens Augen tränten im beißenden Sturm; er konnte nicht klar erkennen, was dort alles auf dem Wasser trieb.
Plötzlich bemerkte Ben einen Mann mit zerfetztem Hemd, der sich mühsam an einer Planke festklammerte.
»Schneller«, knurrte er, obwohl er wusste, dass Aiphyron sein Bestes gab, ihn über das Tosen bestimmt nicht hören konnte und den Mann wohl längst entdeckt hatte.
Mit letzter Kraft hing dieser an seinem Stück Holz und wurde hin und her geschüttelt, von den Wellen emporgehoben und wieder untergetaucht. Gefangen im Kampf um das eigene Leben, reichte er einem Jungen die Hand, um diesem zu sich heraufzuhelfen. Doch das Meer schlug über ihnen zusammen, und der Junge wurde fortgespült. Der Mann schrie und reckte sich vergebens.
Die Hände des Jungen griffen ins Leere.
Aiphyron legte die Flügel an und stürzte hinab, die Augen stur auf den Jungen gerichtet, der sich kaum noch an der Oberfläche halten konnte. Wieder schwappte eine Welle über ihn hinweg, noch kurz war seine ausgestreckte Hand zu erkennen, dann war er verschwunden, endgültig geschluckt vom Ozean.
»Nein!« Ben schrie, obwohl er den Jungen nicht gekannt hatte, und Aiphyron brüllte: »Halt dich fest!«
Dann warf sich der Drache ins Meer. Hart schlug es Ben ins Gesicht, Salzwasser drang ihm in Augen und Nase. Er
schluckte und hustete, schluckte erneut und presste die Lippen fest aufeinander. Das aufgewühlte Meer drohte ihn vom Rücken des Drachen zu wischen; mit aller Gewalt zog und zerrte es an ihm. Verzweifelt klammerte sich Ben an den Hals des Drachen. Er sah nichts außer wilder Gischt und den Schuppen direkt vor seiner Nase, hörte nichts außer dem dumpfen Tosen um sich. Seine Arme und Beine schmerzten vor Anstrengung, das Meer drückte auf seine Ohren, dass ihm schwindelte.
Endlich bog Aiphyron den Rücken durch, änderte die Richtung und paddelte nach oben zurück. Ben krallte sich weiter fest,
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