Das Verlies
Male auf seinem Handy versucht hatte, aber immer nur die Mailbox ansprang. Um kurz nach eins kam Markus von der Schule zurück. Sie erzählte ihm, dass sein Vater offenbar verschwunden sei.
»Na und«, sagte Markus nur und stellte seine Schultasche in den Flur. »Von mir aus kann er für immer und ewig wegbleiben.«
»Markus, bitte, wie oft soll ich es noch sagen, was er auch tut, er ist und bleibt dein Vater. Was, wenn ihm etwas passiert ist?«
»Ich scheiß auf so einen Vater! Warum nimmst du ihn eigentlich immer in Schutz? Warum schlägt er mich eigentlich nie? Ich will nicht, dass er dich andauernd schlägt.«
Gabriele Lura nahm ihren Sohn in den Arm und sagte leise: »Wir gehen weg, Ehrenwort. Es wird nicht mehr lange dauern.«
»Wann?«
»Bald.«
»Und woher weißt du das?«
»Du kennst doch den Traum, von dem ich dir schon einige Male erzählt habe. Ich wohne in einem wunderschönen Haus, alles ist hell und friedlich, da ist ein Park und ein Bach und …«
»Und was ist mit mir? Bin ich auch dabei?«, fragte er misstrauisch.
»Natürlich«, sagte sie beruhigend, »natürlich bist du auch dabei. Wo solltest du denn sonst sein?«
»Und wo steht dieses Haus?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es dieses Haus gibt. Und dein Vater ist nicht dort.«
»Aber woher willst du das Geld nehmen?«
Sie lächelte und antwortete: »Mach dir darüber keine Sorgen, Gott passt auf uns auf und wird uns einen Weg zeigen. Bei ihm ist nichts unmöglich.«
»Das sagst du schon die ganze Zeit, aber bis jetzt ist nichts passiert.«
»Manchmal wird unsere Geduld auf eine harte Probe gestellt,das ist nun mal so. Und noch haben wir Kraft, denn zusammen sind wir stark.«
»Ich hab gestern Angst gehabt«, sagte Markus und löste sich von seiner Mutter. »Fängt es wieder an?«
»Nein, ich glaub nicht. Er hat’s versprochen …«
»Aber wie er gestern wieder geguckt hat! Und ich hab wieder alles gehört, was er gesagt hat.«
»Als wir im Schlafzimmer waren?«
»Hm.«
»Du solltest doch schlafen«, sagte sie liebevoll und streichelte ihm übers Haar.
»Ich hatte aber solche Angst.« Er hielt inne und sah seine Mutter an. »Meinst du, ihm ist was passiert?«
»Keine Ahnung. Und wenn?«
»Dann könnten wir endlich machen, was wir wollen.«
Gabriele Lura lächelte erneut und entgegnete: »Ich glaub, den Gefallen wird er uns nicht tun. Er kommt bestimmt wieder.«
»Hast du Angst?«
»Nein, ich weiß nur, dass bald alles gut wird. Und du brauchst keine Angst um mich zu haben, der liebe Gott wird immer auf mich aufpassen. Und auf dich erst recht. So, und jetzt wasch dir die Hände und komm essen. Ich hab für uns beide Frikadellen und Pommes gemacht.«
Sie hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, als das Telefon klingelte. Frau Walter.
»Frau Lura, allmählich mache ich mir wirklich Sorgen. Ich habe bereits zwei weitere Kunden vertrösten müssen, und ich konnte ihnen nicht einmal sagen, wann Ihr Mann wieder verfügbar ist. Haben Sie schon die Polizei eingeschaltet?«
»Nein, noch nicht. Aber wenn er sich nicht innerhalb der nächsten Stunde meldet, rufe ich dort an.«
»Gut, denn ich arbeite jetzt inzwischen seit fünfzehn Jahren für Ihren Mann, und so etwas ist bisher noch nie vorgekommen. Sie wissen ja selbst, wie … genau Ihr Mann ist.«
»Sie können ruhig penibel sagen, das trifft es eher«, entgegnete Gabriele Lura lachend. »Ich melde mich in einer Stunde wieder bei Ihnen.« Sie legte auf und fragte dann ihren Sohn: »Soll ich die Polizei anrufen?«
Er zuckte nur mit den Schultern. Sie suchte an der Pinnwand über dem Telefontisch die Nummer des für sie zuständigen 10. Polizeireviers, tippte die Nummer ein und erklärte dem Beamten in kurzen Worten die Lage. Er erklärte, es habe an diesem Tag noch keinen Unfall im Bereich des 10. Reviers gegeben, und versprach, zwei Kollegen in ein paar Minuten vorbeizuschicken.
»Komm, lass uns schnell essen«, sagte sie zu Markus, »die Polizei kommt gleich und wird ein paar Fragen stellen.«
Ein ungutes Gefühl beschlich sie, während sie aß. Sie war noch nicht ganz fertig, als die Türglocke anschlug. Zwei uniformierte Beamte standen vor der Tür, ein etwa fünfzigjähriger Mann und eine junge Frau, deren Alter schwer zu schätzen war. Sie bat sie ins Haus.
»Was können wir für Sie tun?«, fragte der Mann, während er einen kurzen Blick durch das geräumige Wohnzimmer warf und anerkennend nickte.
»Es geht um meinen Mann, wie Sie sicherlich schon
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