Das Verlies
sie näher traten.
»Ja?«
»Hellmer und meine Kollegin Durant von der Kriminalpolizei. Dürfen wir reinkommen?«
»Ich habe Sie schon erwartet, ich meine, ich habe damit gerechnet, dass Sie kommen würden«, sagte Wolfram Lura mit freundlich aufblitzenden Augen. Die Wohnung bestand aus drei Zimmern, von denen das Wohnzimmer mit Sicherheit das größte war. Sie nahmen auf einer alten Couch Platz, und Durant ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, nahm erste Eindrücke davon in sich auf und stellte fest, dass Wolfram das genaue Gegenteilseines Bruders war, etwas chaotisch, unordentlich und allem Anschein nach auch unorganisiert. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl, vielleicht, weil es in ihrer eigenen Wohnung selten anders aussah. Was ihr jedoch auffiel, waren all die Whiskeyflaschen auf dem Regal hinter dem Schreibtisch, und nachdem sie Wolfram Lura etwas eingehender betrachtete, kam sie zu dem Schluss, es womöglich mit einem Alkoholiker zu tun zu haben. Ich kann mich auch täuschen, dachte sie, aber seine langen, fettigen Haare und das unrasierte Kinn …
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er, bevor er sich setzte.
»Nein, danke«, winkte Hellmer ab.
Durant hingegen antwortete: »Gerne. Zu einem Glas Wasser sage ich nicht Nein.«
Er begab sich in die Küche und kam gleich darauf mit drei Gläsern und einer Flasche Mineralwasser zurück und schenkte wortlos auch Hellmer ein. Dann setzte er sich, sprang aber noch einmal kurz auf, um einen Text auf dem PC zu speichern.
»Sie kommen wegen Rolf. Ich habe erst heute Morgen von Gabriele erfahren, was passiert ist. Gibt es schon etwas Neues?«, fragte er.
»Bis jetzt nicht. Wir kommen gerade von Ihren Eltern …«
Er lachte kurz und trocken auf und fuhr ihr ins Wort: »Meine Eltern, oder sollte ich besser sagen, meine liebe Mutter. Was hat sie Ihnen von Rolf erzählt? Was für ein wunderbarer Sohn er doch ist und was für ein Versager ich bin? Hat sie es gesagt?«
»Nicht direkt«, antwortete Durant diplomatisch.
»Nicht direkt heißt, sie hat es gesagt. Na ja, das ist meine Mutter. Ich bin ja nur ein abgehalfterter Journalist, der nicht mal mehr einen Job hat. Egal. Fragen Sie, vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen, auch wenn Rolf und mich nichts, aber auch rein gar nichts verbindet außer der Stammbaum.«
»Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«
»Kann ich nicht sagen. Irgendwann vor einem halben Jahroder so. Ja, es war zu Markus’ Geburtstag. Ich bin hingefahren, habe Markus ein Geschenk gebracht, ein Stück Kuchen gegessen und wurde von meinem Bruderherz nach einer knappen Stunde ziemlich unverblümt aufgefordert, wieder zu gehen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.«
»Wir müssen Sie aber trotzdem fragen, wo Sie gestern Morgen zwischen acht und zehn waren.«
»Hier. Meine Lebensgefährtin wird Ihnen das bestätigen können, denn wir haben zu der Zeit gefrühstückt.«
»Wie heißt Ihre Lebensgefährtin, und wo ist sie jetzt?«
»Andrea Lieber. Sie müsste eigentlich jeden Moment hier eintrudeln, sie bringt sich oft Arbeit mit nach Hause, weil sie den Büromief nicht mag. Sie arbeitet als Lektorin in einem Verlag.«
»Warum sind Sie und Ihr Bruder zerstritten?«, wollte Hellmer wissen. »Gab es dafür einen bestimmten Auslöser?«
»Ph, Auslöser! Der Auslöser war meine Geburt. Ich war ein unerwünschtes Kind, und das hat mich vor allem meine Mutter immer wieder spüren lassen. Und mein Bruderherz hat ziemlich schnell rausgekriegt, wie er das zu seinem Vorteil nutzen kann. Mein Vater ist in Ordnung, er schafft es nur nicht, sich gegen die beiden durchzusetzen. Mit ihm komme ich gut klar, wir sehen uns auch des Öfteren, und jetzt, wo’s mir finanziell nicht so gut geht, greift er mir heimlich hin und wieder unter die Arme. Meine Mutter darf das aber nie erfahren, die würde ihm nämlich schwer was geigen. Ich hoffe trotzdem, dass ich bald wieder arbeiten kann, denn es stinkt mir gewaltig, nur rumzuhängen und …« Er stand auf, goss sich ein Glas Whiskey ein und leerte es in einem Zug. »Entschuldigung, aber immer wenn ich darüber spreche, kommt’s mir hoch. Und da hilft das Zeug wenigstens ein bisschen über diese ganze Scheiße hinweg.«
»Welche meinen Sie? Die mit Ihrer Mutter oder wegen Ihrer Arbeit?«, fragte Durant.
»Beides«, sagte er und zuckte resignierend mit den Schultern.»Wenn’s schief läuft, dann eben richtig. Hier«, er deutete auf ein Bild, das auf einem Sideboard stand, und
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