Das Verlorene Labyrinth
blieb, dann hatten die Männer vielleicht doch noch eine Chance.
Sooft sie konnte, ging Alaïs zu Thierry, um ihm die Verbände zu wechseln, obwohl sie wusste, dass keine Hoffnung bestand. Er war nicht mehr bei Bewusstsein, und seine Haut hatte die blauweiße Farbe des Todes angenommen. Sie legte Guilhem eine Hand auf die Schulter.
»Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Es dauert jetzt nicht mehr lange.« Guilhem nickte nur.
Alaïs kümmerte sich unermüdlich um alle im Saal. Als sie einmal an einem chevalier vorbeikam, der kaum älter war als sie, schrie der junge Mann auf. Sie blieb stehen und kniete neben ihm nieder. Sein kindliches Gesicht war vor Schmerz und Unsicherheit verzerrt, seine Lippen waren rissig, und in den Augen, die einmal braun gewesen waren, stand die blanke Angst.
»Ganz ruhig«, raunte sie. »Habt Ihr niemanden?«
Er versuchte den Kopf zu schütteln. Alaïs strich ihm mit der Hand über die Stirn und hob das Tuch an, das seinen Schild-Arm bedeckte. Sogleich ließ sie es wieder sinken. Die Schulter des Jungen war zerschmettert. Weiße Knochensplitter ragten durch die zerfetzte Haut, wie ein Schiffswrack bei Ebbe. In seiner Seite klaffte ein Loch. Blut floss in einem steten Rinnsal aus der Wunde und bildete eine Lache, in der er lag.
Seine rechte Hand war um das Heft seines Schwertes gekrampft. Alaïs versuchte ihm die Waffe zu entziehen, doch seine starren Finger wollten sich nicht öffnen. Alaïs riss ein Stück Stoff aus ihrem Rock und legte es auf die tiefe Wunde. Aus einem Fläschchen in ihrem Beutel träufelte sie ihm etwas Baldriantinktur auf die Lippen, um den Todesschmerz zu lindern. Mehr konnte sie nicht für ihn tun.
Der Tod war nicht gnädig. Er kam langsam. Allmählich wurde das Rasseln in seiner Brust lauter, und er atmete mühsamer. Als seine Augen sich verdunkelten, wuchs seine nackte Angst, und er schrie auf. Alaïs blieb bei ihm, sang ihm leise etwas vor und streichelte ihm die Stirn, bis er starb.
»Gott sei deiner Seele gnädig«, flüsterte sie und schloss ihm die Augen. Sie bedeckte sein Gesicht und ging weiter zum Nächsten. Alaïs gönnte sich keine Ruhe; sie trug Salben auf und verband Wunden, bis ihr die Augen brannten und die Hände rot von Blut waren. Als der Tag sich dem Ende zuneigte und die Abendsonne durch die hohen Fenster in den Großen Saal drang, waren die Toten weggebracht worden und die Lebenden so gut versorgt, wie ihre Wunden es zuließen.
Sie war erschöpft, doch die Erinnerungen an die Nacht davor, als sie endlich wieder in Guilhems Armen gelegen hatte, gaben ihr Kraft. Ihre Glieder schmerzten, und ihr Rücken war steif vom vielen Bücken und Niederkauern, aber es machte ihr nicht das Geringste aus.
Oriane nutzte die hektische Betriebsamkeit im übrigen Château Comtal, um sich unbemerkt in ihr Gemach zu schleichen und dort auf ihren Spitzel zu warten.
»Das wurde aber auch Zeit«, zischte sie. »Nun sag schon, was ihr rausgefunden habt.«
»Der Jude ist gestorben, bevor wir ihm viel entlocken konnten, aber mein Herr glaubt, dass er das Buch bereits Eurem Vater zur Aufbewahrung übergeben hatte.«
Oriane lächelte schwach, sagte aber nichts. Sie hatte niemandem anvertraut, was sie in Alaïs' Mantel eingenäht gefunden hatte. »Was ist mit Esclarmonde de Servian?«
»Sie war tapfer, aber am Ende hat sie ihm erzählt, wo das Buch zu finden ist.«
Orianes grüne Augen blitzten. »Und hast du es?«
»Noch nicht.« »Aber es ist innerhalb der Ciutat? D'Evreux weiß Bescheid?« »Er verlässt sich darauf, Herrin, dass Ihr ihm darüber Mitteilung macht.«
Oriane überlegte einen Moment. »Die Alte ist tot? Der Junge auch? Sie kann unsere Pläne nicht mehr stören? Sie kann meinen Vater nicht mehr warnen?«
Er lächelte verkniffen. »Die Frau ist tot. Der Bengel ist uns entwischt, aber ich glaube nicht, dass er irgendwelchen Schaden anrichten kann. Wenn ich ihn finde, töte ich ihn.«
Oriane nickte. »Und du hast d'Evreux erzählt, welches ... Interesse ich habe?«
»Das habe ich, Herrin. Er fühlt sich geehrt, dass Ihr ihm auf diese Weise Eure Dienste antragt.«
»Und meine Bedingungen? Garantiert er sicheres Geleit aus der Ciutat?«
»Das tut er, Herrin, vorausgesetzt, dass Ihr ihm die Bücher übergebt.«
Sie stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Gut, das ist alles sehr gut. Und du erledigst das mit meinem Gemahl?«
»Wenn Ihr mir sagt, wann und wo er zu einer bestimmten Zeit anzutreffen ist, Herrin, dann mit Leichtigkeit.«
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