Das verlorene Land
Einbruch der Dunkelheit waren die Kämpfe noch nicht vollständig beendet gewesen. Beide Seiten waren mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet, und zehn oder fünfzehn Straßenzüge weiter nördlich schienen trotz des miesen Wetters neue heftige Auseinandersetzungen auszubrechen. Inzwischen hatte der Regen große Teile von Lower Manhattan überflutet, und das machte taktische Manöver ziemlich schwierig, wenn nicht ganz unmöglich. Dementsprechend waren die großen Gefechte auf Brigadeniveau kleiner geworden und schließlich ganz abgebrochen. Zuerst hatten die Amerikaner mit ihren Helikoptern die Piraten direkt von oben angegriffen – oder besser gesagt die Plünderer, wie Milosz sie lieber nannte. Für ihn klang das Wort »Pirat« viel zu großartig für diese niedrigste Art von Abschaum, von Lumpen, die sich über die Reste einer toten Stadt hergemacht hatten. Trotzdem waren so viele Männer und Hubschrauber verlorengegangen, getroffen von Geschossen aus Panzerfäusten, dass die Kämpfe am Boden
weitergeführt werden mussten, zu Fuß oder in gepanzerten Fahrzeugen. Doch sogar die wurden immer wieder Opfer von gigantischen Bomben, die am Straßenrand, in Schmutzhaufen oder Müllbergen versteckt waren. Deshalb war Milosz eigentlich ganz zufrieden, hier oben in seinem gut möblierten Unterstand zu sitzen, von wo aus man sich seine Ziele gut aussuchen konnte. Ein Trupp der Kavallerie gab ihm von einem der unteren Stockwerke aus Feuerschutz und verhinderte das Eindringen von Feinden, während über ihnen, knapp unter der Wolkendecke, die Apache-Hubschrauber kreisten und auf jede größere Ansammlung herabstießen, die die Position zu wechseln versuchte. Späher und Beobachter koordinierten das Feuer der Army und der Schiffe der Marine auf dem East River. Alles war wohlgeordnet, alles war bedacht worden – und das konnte natürlich nicht so bleiben.
Mit dem Kaffee und einem mit seinem Gerber-Messer durchgeschnittenen Mars-Riegel kam er zu Wilson zurück. Das Messer hatte er bei einem Pokerspiel von Wilson gewonnen.
Das waren noch Zeiten gewesen. Der Master Sergeant beugte sich in seinem Luxussessel nach vorn und presste die Finger gegen seine Ohrhörer. Milosz, der keine Kopfhörer trug, konnte nicht verstehen, um was es ging.
»Hier ist Gopher Eins-Drei«, sagte Wilson und benutzte damit den neuesten der ständig wechselnden Rufnamen. »Bitte fahren Sie fort.«
Milosz wartete ab, bis Wilson sein Gespräch beendet hatte.
»Gopher, verstanden«, sagte Wilson. »Ende.«
Er nahm den Becher mit dem Kaffee entgegen und schob sich den halben Schokoriegel in einem Stück in den Mund.
»Tut mir leid, aber die Pause ist vorbei. Die Miliz ist ein Stück zu weit auf den Madison Square vorgedrungen, jetzt
sind sie umzingelt. Das Feuerwerk kommt aus dieser Richtung. Wir sollen mit der Kavallerie hin und sie rausholen.«
Milosz ließ sich etwas mehr Zeit mit seinem Schokoriegel und trank den Rest des Kaffees aus. Er war in wenigen Minuten abmarschbereit, und wer wusste schon, wann er wieder was zu beißen bekam.
Die Bimbos kamen aus …
Milosz zwang sich, den Satz nochmal zu formulieren. Er hatte Wilson versprochen, dass er das Wort »Bimbo« nicht mehr benutzen wollte. Aber trotzdem waren diese Plünderer allesamt Bimbos. Viele trugen sogar Palästinensertücher. Manche von denen waren mexikanische Bohnenfresser. Sogar ein paar Mistkerle aus seiner alten Gegend, also Serben und Russen, waren darunter. In den letzten Berichten der Nachrichtendienste hatte es geheißen, dass ein paar Dutzend Angehörige der tschetschenischen Mafia im Norden der Insel tätig waren. Aus irgendwelchen Gründen bestand dieser lockere Zusammenschluss von Banditen, die immer wieder Streit suchten, größtenteils aus Afrikanern oder Flüchtlingen des Zweiten Holocaust, jeder Menge verschiedener Araber und einigen Iranern. Sie strömten überall in die Häuser rund um den Madison Square, wo die Alpha-Kompanie von Gouverneur Schimmels Ersten New Yorker Milizregiment eingekreist worden war und jeden Moment überrannt werden konnte.
»Der bessere Teil von Alpha hat sich hier oben verschanzt«, sagte der Colonel, als er auf eine eigenartige Karte deutete, um die herum zahlreiche Becher mit abgestandenem Kaffee standen. Bleistifte, Lineale und Ausdrucke von Berichten lagen ebenfalls auf dem Konferenztisch. Auf der Karte waren nicht nur die Straßenzüge dieses Teils der Stadt zu erkennen, sondern auch 3D-artige Abbildungen der Gebäude. Das Ganze
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