Das verlorene Land
Durch das Nachtsichtgerät konnte Miguel sehen, wie zwei der Huren einer Frau das Bein stellten, nachdem sie auf einem Tablett Bier gebracht hatte. Dann stürzten sie sich auf sie, hinderten sie am Aufstehen, setzten sich auf sie drauf, schlugen auf sie ein und lachten und schrien etwas, das Miguel nicht verstehen konnte. Aber er war sich sicher, dass es etwas Hässliches und Grausames sein musste. Die umstehenden Männer lachten sich kaputt darüber.
Eine ungeheure Wut raste durch seine Adern und machte ihn schwindelig.
Er spürte, wie der neben ihm auf dem weichen Nadelwaldboden liegende Aronson sich anspannte, deshalb packte und drückte er ihn und grub seine Fingernägel tief in dessen Arm.
»Nein«, sagte er. »Es ist noch nicht so weit.«
»Aber sie … das … das ist Jenny, die Verlobte von Willem.«
Miguel drückte mit dem Daumen auf die Nerven unterhalb von Aronsons Bizeps. Der Mormone war nicht gerade ein Weichling, aber der Schmerz, den er jetzt zweifellos verspürte, war sicherlich unerträglich und übertönte alle anderen Empfindungen. Als Miguel sicher war, dass Aronson sich beruhigt hatte, ließ er von ihm ab.
»Tut mir leid, Aronson, aber wenn Sie jetzt gegen sie vorgehen, dann werden Sie sterben, und sie wird auch sterben. Wahrscheinlich würden sie dann alle Ihre Frauen umbringen, und zwar ganz langsam. Den Spaß würden sie sich nicht entgehen lassen. Wir müssen abwarten. Die anderen werden nichts unternehmen, bevor wir zurückgekommen sind und berichtet haben, was wir gesehen haben. Für das, was wir vorhaben, brauchen wir jeden Mann.«
Aronson schwieg einen Moment und horchte auf die Schreie und den Partylärm, der von der South Cottonwood Street zu ihnen herüberwehte.
»Das ist nicht auszuhalten«, sagte er mit gebrochener Stimme.
Miguel nickte im Dunkeln vor sich hin.
»Ja, wir sollten jetzt gehen. Wir müssen zum Treffpunkt zurück, dann kann ich wieder herkommen und die Lage beobachten. Das ist wahrscheinlich besser. Ich muss von allen Seiten Einblick haben und will auch die Weide auskundschaften, wo sie das Vieh hingebracht haben. Wir müssen wissen, wie viele Wachposten sie aufgestellt haben. Wahrscheinlich kann ich das herausfinden, ohne geschnappt zu werden. Sie eher nicht. Also gehen wir erst mal.«
Ohne ihm die Möglichkeit auf eine Erwiderung zu lassen, stand Miguel auf, zog den Mormonen hoch und führte ihn aus dem Unterholz, von dem aus sie das Lager der Feinde beobachtet hatten. Die Road Agents hatten sich eine eher ärmliche Gegend in der Stadt ausgesucht, ein Stück weit entfernt vom eigentlichen Geschäftszentrum. In diesem Viertel hatten vor dem Effekt die eher ärmeren Menschen von Crockett gewohnt. Die meisten Häuser wirkten klein und mickrig, vor allem jene auf der dem Wald zugewandten Seite der Cottonwood Street, am Fuß der Hügel und in der Nähe der Felder. Eine Menge Müll und verrostete Geräte lagen in den Gärten und Zufahrten herum
und hatten dort wahrscheinlich schon gelegen, bevor die Bewohner der Grundstücke verschwunden waren. Im Gegensatz zum Zentrum des Ortes und einigen wohlhabenderen Bezirken war diese Gegend weder von der Feuersbrunst noch von Plünderern verwüstet worden. Und die Szene, die er gerade beobachtet hatte, ließ den Schluss zu, dass die Schnapsvorräte des Hy Top Club auch nach dem Ende der Energiewelle nicht weggeschafft worden waren.
Er dachte darüber nach.
Vielleicht war einer der Road Agents ja von hier und während der Katastrophe von 2003 nicht im Land gewesen. Vielleicht war er mit der Army im Irak gewesen? Wenn dem so war, dann hatte er seine Kameraden hierhergeführt, nachdem sie Aronson und seine Leute überfallen hatten. In der Welt nach dem Effekt war es immer nützlich, wenn man sich in einer Gegend besonders gut auskannte und wusste, wo man sich bestimmte Vorräte beschaffen konnte.
Die beiden Männer schlichen vorsichtig durch die Dunkelheit zurück. So weit von dem beleuchteten Lokal entfernt mitten im Buschwerk, drang das Licht der brennenden Ölfässer kaum noch zu ihnen durch. Hier konnte man die kalt glitzernden Sterne am Himmel erkennen und den bleichen Halbmond, der sein blasses Licht über die Ruinen der Stadt schickte und ihnen den Weg wies. Sie gingen langsam und bemühten sich, den gleichen Weg zurückzugehen, den sie vor einer Stunde gekommen waren. Schließlich erreichten sie eine kleine, von Walnussbäumen, Ulmen und Amberbäumen begrenzte Lichtung, wo das Gras kniehoch wuchs und einige junge
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