Das verlorene Land
eine Drahtfabrik, eine Schreinerei und einen Nahrungsmittelgroßmarkt. Eines der größten Grundstücke gehörte zum Logistikunternehmen DHL, und weitere sechs Fabriken an der Long Reach Road waren von einer deutschen Firma übernommen worden. Es hieß, dort solle mit Unterstützung des Wiederaufbauprogramms der EU eine Produktionsstätte für den neuen BMW-Kleinwagen entstehen. Caitlin hatte allerdings den Eindruck, dass sich seit dem letzten Mal, als sie hier vorbeikam, nichts verändert hatte, nur ein hoher Stacheldrahtzaun war errichtet worden.
Dalby lenkte sein Auto vorsichtig zwischen den zahlreichen Lastwagen hindurch, die über die mit Schlaglöchern übersäte Straße rumpelten, Dieselschwaden ausstießen und sich nicht darum scherten, ob sie ihn womöglich abdrängten. Sie kamen am Crooked Billet Pub vorbei, einer Kneipe, wo man gut trinken konnte und wo es immer nach abgestandenem Essen, altem Bratfett und Zigarettenrauch roch. Caitlin hatte dort mal zu Mittag gegessen und sich über die verschmierten Fenster genauso gewundert wie über die riesige Sammlung von Pat-Benatar-Stücken in der Jukebox. Viel spannender hatte sie allerdings gefunden, dass dort eine Art Dickens-Atmosphäre herrschte und die Arbeiter sie ungeniert mit lüsternen Augen gemustert hatten.
Eine Minute nachdem sie den Pub passiert hatten, machte Dalby vor dem alten Kraftwerk eine Kehre und bog auf
einen Kiesweg ein. Der Weg führte an einigen offensichtlich leeren Baracken vorbei und dann an einem abgesperrten Grundstück, auf dem Container in drei oder vier Reihen übereinandergestapelt waren. Ungefähr hundert Meter dahinter floss das graue Wasser der Themse. Am Ufer waren zwei Männer damit beschäftigt, schwere Kisten aus einem Boot zu heben, das am Ende des Piers festgemacht war. Sie winkten Dalby zu, als er den Mercedes einparkte und ausstieg, dann widmeten sie sich wieder ihrer Arbeit. Caitlin und Dalby nahmen ihr Gepäck vom Rücksitz und gingen über einen matschigen Parkplatz vorbei an weiteren vor sich hin rostenden Containern, übereinandergestapelten Autoreifen, mindestens einem Dutzend ausgemusterter Boote und einigen Kieshaufen, über die Zeltplanen gespannt waren, deren grüne Farbe fast völlig verblichen war. Nachdem sie die Schrotthalde durchquert hatten, sich einmal nach rechts und nach links gewandt hatten, um weitere Müllberge zu passieren, erreichten sie einen zweieinhalb Meter hohen elektrischen Zaun, der von Stacheldraht gekrönt wurde. Am Eingang stand eine Holzhütte, in der ein junger durchtrainierter Mann in Zivilkleidung saß, vor sich einen Pappbecher mit einem Getränk.
Er begrüßte Dalby mit Namen, verlangte aber dennoch, dass sie sich beide auswiesen.
Caitlin spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten, als sie merkte, dass sie ins Visier der Scharfschützen geraten war, die jeden aufs Korn nahmen, der sich dem Eingang des »Käfigs« näherten. Es brachte nichts, sich darüber aufzuregen, denn wenn man hier offiziell etwas zu erledigen hatte, gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Nur wer sich durch den Hintereingang hereinschleichen wollte, musste mit dem Schlimmsten rechnen.
Der Wachposten bedankte sich und entschuldigte sich für die Formalitäten. Das Tor glitt auf, und sie traten ein in das Londoner Operationszentrum von Echelon.
26
Texas, Regierungsbezirk
»Das sind ganz bestimmt keine Banditen«, sagte Miguel leise. »Das sind Road Agents.«
Er reichte Aronson das Nachtsichtgerät. Das war wirklich ein großartiges Ding, dachte er. Wenn er in die nächste größere Stadt kam, würde er sich so ein Gerät in einem Fachgeschäft für Jägerausrüstung oder einem Armyladen besorgen. Problemlos konnte er einige Wachposten ausmachen, die vor dem Hy Top Club standen, einem heruntergekommenen Holzschuppen mit einem zerborstenen Dach und einer schief herabhängenden Markise über der Veranda.
Aronson fragte ebenso leise zurück: »Gibt es denn da einen Unterschied?«
Miguel nahm das Nachtsichtgerät wieder zurück und schaute sich den Nachtclub beziehungsweise die Billigpinte, oder was immer es einmal gewesen war, an. Es war der einzige Ort in Crockett, wo etwas los war, obwohl die Road Agents, die den Mormonen die Rinderherde gestohlen und die Frauen entführt hatten, sich mächtig anstrengten, die Nacht zum Tag zu machen. Die kleine Stadt war zwar nur noch ein Mausoleum für jene siebentausend Menschen, die hier verschwunden waren, aber wer nichts von dieser Katastrophe wusste, würde
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