Das verlorene Land
verbringen. Er kehrte zu den Pferden zurück und stellte zufrieden fest, dass Sofia die Umgebung aufmerksam im Blick behielt. Immer wieder schaute sie durch das Fernrohr ihrer Remington-Flinte, wenn sie etwas Interessantes bemerkte, und vergewisserte sich genau, was es war, bevor sie die Waffe wieder senkte. Ihre Bewegungen waren steif und mechanisch. Miguel nahm an, dass sie unter Schock stand, genau wie er selbst sicherlich auch. Aber es war keine Alternative, sich jetzt irgendwohin zu verkriechen, bevor sie nicht einen sicheren Abstand zum Ort des Verbrechens erreicht hatten. Er begann damit, die Satteltaschen abzuladen.
»Sofia, das machst du sehr gut. Aber jetzt musst du die Pferde in den Garten auf der anderen Straßenseite bringen. Der hat einen Zaun, und es gibt einen kleinen Teich dort, aus dem sie trinken können. Kannst du das bitte übernehmen, während ich ablade und alles vorbereite?«
»Ja, Papa«, antwortete sie. Sie war harte Arbeit gewohnt, und er war sich sicher, dass sie sich gut um die Pferde kümmern würde, auch wenn sie von den schrecklichen Erlebnissen dieses Tages schwer gezeichnet war. Er selbst musste sich ja auch zwingen, seinen Schmerz und seine Verzweiflung zu überwinden. Er fragte sich, wann es wohl so weit war, dass sie einfach mal einen Tag lang ausruhen durften, um wirklich trauern zu können. Sofia stieg aus dem Sattel und führte die Tiere durch das abendliche Zwielicht zu dem Garten, den er ihr gezeigt hatte. Das Haus, das dazugehörte, war abgebrannt, aber der Zaun war noch heil. Flossie schüttelte ihre Mähne und bestand darauf, ihre Artgenossen durch das Tor zu führen, wo das Gras kniehoch gewachsen war.
»Blue Dog, Red Dog, ihr beiden auch«, kommandierte Miguel. Sofie pfiff die beiden Hunde zu sich, und sie kamen fröhlich angelaufen. »Aufgepasst!«, rief Miguel, als sie im
Garten angekommen waren, und dann warf er eine Handvoll Dörrfleischstreifen über den Zaun. Die Hunde fielen hungrig darüber her. Sofia versorgte die Pferde, und er trug die Satteltaschen zurück zum Laden.
Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden, und das Licht der Kerosinlampe schien viel heller zu strahlen als vorher. Miguels Magen knurrte vor Hunger. Er baute einen kleinen gasbetriebenen Campingkocher auf der Theke im Diner auf. Dann nahm er seine Taschenlampe und ging in den Ladenbereich zurück. Dort zog er die Falltür hinter dem Tresen auf. Unten im Keller war es stockdunkel. Er entschied sich, die Taschenlampe und eine Kerosinleuchte mit nach unten zu nehmen, und stieg die schmalen Holzstufen hinab. Auf halbem Weg musste er innehalten, als die Bilder von seiner Familie ihm in den Sinn kamen. Gestern Abend noch hatten sie sich zum Essen um den großen Tisch versammelt. Der Schock der Erinnerung war wie ein Schlag mit einer eisernen Faust gegen seine Brust. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, wieder an die Gegenwart zu denken. Später würde er Zeit zum Trauern haben, aber nicht jetzt. Jetzt musste er sich um seine Tochter kümmern.
Der Keller entpuppte sich als gut ausgestattetes Lager mit Lebensmitteln in Dosen und Flaschen. Mit diesen Vorräten hätte er seine Familie ein Jahr lang durchbringen können.
Angewidert schüttelte er den Kopf, weil er schon wieder Schwäche zeigte. Wie sollte er denn die nächsten Wochen überstehen, wenn er noch nicht einmal in der Lage war, seine eigenen Gedanken und Gefühle zu beherrschen? Er kehrte ins Diner zurück mit einer Dose Dinty Moore’s Gulasch und einem Glas mit Del-Monte-Pfirsichen. Nach einigen Minuten Aufwärmen im Campingkocher war das Abendessen fertig, gerade als Sofia hereinkam und ihre Satteltasche, ihren Rucksack und ihr Gewehr mitbrachte.
»Hast du Hunger?«, fragte Miguel.
»Klar«, sagte sie, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. »Danke, Papa.«
Sie setzte sich zu ihm an die Theke. Sie schien sich nicht an den Überresten der Verschwundenen zu stören, vielleicht nahm sie sie auch gar nicht bewusst wahr. Die Jüngeren waren so, dachte Miguel, sie konnten so etwas viel leichter wegstecken als die Älteren.
»Es tut mir leid«, sagte sie und schaute ihn an. »Ich sollte irgendetwas fühlen, aber es geht nicht. Was ist nur falsch, Papa?«
Miguel hatte das Gefühl, sein Herz würde zerquetscht, so viel Druck schien auf ihm zu lasten. Er nahm seine Tochter in die Arme und hielt sie fest. Zu seiner Überraschung versteifte sie sich. Ihm selbst traten Tränen in die Augen, aber es waren andere Tränen als jene, die
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