Das verlorene Observatorium
Anfang Zwanzig. Zerrissene Hose. Jeans. Karierte Jacke. Gefärbte, kupferrote Haare. Braune Sommersprossen. Mondgesicht. Schön. Sie trug Kreide auf die Betonplatten auf, sie rieb Farben in das uniforme Grau. Sie verschmierte sie, vermischte sie. An diesem Tag malte sie einen Engel. Der Engel war das Werk eines Meisters der Renaissance, sie kopierte das Bild von einer Postkarte, aber die Ähnlichkeit war nicht besonders. Über einem an den vier Ecken mit Steinen beschwerten Taschentuch stand die Mitteilung: DANKE Man dankte ihr mit Münzen. Großzügig. Nicht wegen ihrem Engel, sondern weil sie große braune Augen hatte. Wir kannten uns nun schon seit zwei Jahren.
Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen.
Menschen, alle möglichen Menschen, alte, junge, kranke und gesunde, sprachen mit ihr. Es hätte mir gefallen, ihre Kreidebilder zu sammeln, aber die verblaßten schnell. Sobald sie fort war, gingen die Menschen über ihre Bilder hinweg. Der Regen löste sie auf, schrubbte ihre Gesichter weg. In einem Anfall von Dummheit hatte ich einmal mit meinen behandschuhten Händen über ihr Kunstwerk gerieben, nachdem sie fort war. Auf meinen Handschuhen befanden sich anschließend schmutzige, häßliche, verschmierte Flecken. Ich mußte sie ersetzen und war anschließend tagelang krank. Einmal schaute sie mich an und lächelte. Ich erwiderte ihr Lächeln nicht. Ich hatte Angst. Sie hörte auf zu lächeln und widmete sich wieder ihren Farben.
Wann immer ich ein schönes Mädchen sah, dachte ich daran, was für mich das Beste war, aber nur für kurze Zeit. Es war gegen Ende des Frühlings; mit all den Blüten im Park gab es einen Hauch von Hoffnung.
2. HASS. Der Park war abscheulich wegen seines Gedächtnisses. Wie so viele Menschen war er traurig wegen seines Gedächtnisses. Wie so viele Menschen genoß er es, seine Traurigkeit an andere weiterzugeben. Diese Traurigkeit, gleichwohl keine gefährliche Krankheit, war ansteckend. Sie hatte die Eigenart, durch die Poren der Haut eines Menschen zu dringen. Menschen saßen absolut glücklich im Park, aber noch bevor sie wieder aufstanden, schlichen sich traurige Gedanken in ihre Köpfe. Der Park erinnerte sich daran, was er einmal gewesen war. Er erinnerte sich an andere Bäume. Er erinnerte sich an Gras, an viele Hektar Grasland. Er erinnerte sich an die Hufe von Kühen und Kälbern. Er erinnerte sich. Alles, was von dem einst weiten und üppigen Park geblieben war, wurde nun von einem schmiedeeisernen Zaun eingepfercht. Das Grünland wurde umgepflügt, Häuser wurden auf seinem Boden errichtet. Die Kühe wurden fortgetrieben, Menschen wurden hergetrieben. An diesem Punkt muß ich zugeben, daß ich als Kind auf den Straßen gewandert bin, die den Park umgaben. Ich war da, die Straßen nicht. Früher war dies alles mein Zuhause gewesen.
Die Ormes lebten bereits seit Jahrhunderten auf diesem Land. Sie lebten in einem Haus nicht weit von diesem Park entfernt. Als ich jung war, trug das heute Observatorium genannte Gebäude einen anderen Namen, damals hieß es noch Tearsham Park. Tearsham Park war ein großes Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es hatte auch ein älteres Tearsham Park gegeben, ein Herrenhaus aus dem sechzehnten Jahrhundert, das jedoch bei einem Brand zerstört worden war. Vieles aus diesem Haus war gerettet worden, aber das Gebäude selbst war für immer verloren - seine Balken und Dielen aus Eichenholz waren leichte Beute für das Feuer. Das neue Tearsham Park, errichtet an exakt derselben Stelle wie sein Vorgänger, war ein großer grauer Würfel mit einem zentralen Innenhof und einem, was wirklich ungewöhnlich war, Observatorium, das in ein kuppelförmiges Dach genau über der Eingangshalle gebaut worden war.
Als aus Tearsham Park das Observatorium wurde, entstand in der Mitte des einstigen Innenhofs ein Fahrstuhlschacht. Auf dem restlichen Hof wurden auf jeder Etage rechtwinklige Korridore angelegt, die von oben bis unten durch Treppen miteinander verbunden waren. Die ursprüngliche imposante Mahagonitreppe sowie das nach hinten liegende Treppenhaus für die Dienstboten wurden abgerissen. Wo einst Fenster auf den Innenhof führten, befanden sich jetzt Treppenabsätze mit Türen. Das Gebäude wurde in vierundzwanzig einzelne Wohnungen aufgeteilt. Das eigentliche Observatorium blieb erhalten, gleichwohl nur in seiner Form, nicht in seiner Funktion. Ich erinnerte mich an große, weitläufige Räume: die Bibliothek, das Frühstückszimmer, der Salon, das
Weitere Kostenlose Bücher