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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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weniger um die Mädchen kümmerten, die voraussichtlich nur kurze Zeit bleiben würden, da sie ja fortgeschickt werden konnten, noch bevor sie die Gelegenheit bekamen, ihre Namen zu lernen. Es wäre ein Leichtes für die Priester gewesen, sich hinzusetzen und sich die Geschichte jedes Kindes anzuhören, ihm im Verlauf der Schilderungen ein Taschentuch zu reichen und es zu trösten. Aber wenn sie sich die Zeit für ein Kind genommen hätten, dann hätten auch andere darauf bestanden, Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen und so ließ man gleich alle allein. Sie weinten allein. Überzogen die ohnehin schmutzigen Laken mit ihrem Rotz und ihren Tränen. Die Laken, zu schwach, sich zu wehren, wurden gestreckt, zerrissen, geliebt und eingeschmiert und dann ohne einen Abschiedsgruß verlassen, damit das nächste Mädchen sie mißhandeln konnte. Manchmal lagen wir den ganzen Tag und die ganze Nacht über dort. Tagsüber stand die Tür immer offen. Von der Tür aus war ein Korridor zu sehen, und bisweilen gingen andere, besser gekleidete Kinder vorbei, erinnerte sich Anna Tap. Auch Erwachsene gingen vorbei: Priester, Putzfrauen, Ärzte. Nur die anderen Kinder schauten herein, aber sie blieben niemals stehen, um zu reden, tröstende Worte oder Beleidigungen auszusprechen, denn auf einem Holzschemel in der Tür saß ein Aufseher. Der Aufseher war ein gut gebauter Mann von etwa zwanzig Jahren. Er saß dort an jenen Tagen und in jenen Stunden, an denen wir gezwungen waren, im Schlafsaal zu bleiben. Er saß dort mit einer Zeitung, las sie von vorne bis hinten, begann mit dem Sportteil und arbeitete sich dann von hinten nach vorne vor. Er schaute nur auf, wenn sich eine von uns der Tür näherte. Dann schickte er das Kind zurück in sein Bett oder stand auf und füllte den ganzen Türrahmen aus.
    Alles war nur vorübergehend, all diese kleinen Körper würden nicht länger als drei Monate dort liegen. Nur die Flecken, die Betten, der Aufseher waren von Dauer. Tagsüber, wenn der Aufseher mit seiner Zeitung auf seinem Posten saß (sofern es uns nicht erlaubt war, draußen zu sitzen oder in einem großen Klassenzimmer), war alles still, nur das Rascheln der Decken oder Laken war zu hören oder ein leises Flüstern, denn die Gegenwart des Aufsehers war eine unmissverständliche Anweisung SEID STILL. Aber nachts, nach einer Mahlzeit, bestehend aus einem Glas Milch (erinnerte sie sich mit einem Blick auf Claire Higg, denn es war das Glas Milch, welches ihr Gedächtnis angeregt hatte), Suppe, Brot und Keksen, nachdem die Tür abgeschlossen und auf dem Korridor Ruhe eingekehrt war, begann nach und nach der Lärm.
    Zuerst war es ruhiges Getuschel hier und dort, von diesem Bett oder von jenem, dieser Matratze oder jener Matratze: niemals über das Ursprungsbett oder die Ursprungsmatratze hinausgehend, wo deren Bewohner miteinander tuschelten. Somit fanden die ersten Unterhaltungen immer nur zwischen zwei Mädchen statt. Pärchen flüsterten, Getuschel, das zaghaft, ohne zu wissen, ob die Nachbarn reagieren würden, begann mit: Es ist dunkel oder Es ist kalt oder Bist du wach? Und dann kamen die Antworten zurück: Du wirst dich dran gewöhnen oder Nehme ich dir zuviel Decke weg? oder Ich bin wach, schon in Ordnung, wenn wir reden. Und dann erkundigte man sich nach dem Namen der anderen, woher man kam, ob man wisse, wohin es als nächstes ging, wie lange man hier bliebe? Nach und nach wurde man dann sicherer, die Worte kamen schneller, waren jetzt spontan, nicht mehr sorgfältig zurechtgelegt. Im ganzen Schlafsaal wurden die zahlreichen Gespräche immer lauter und die anderen Paare, die zunächst Angst hatten zu reden, fügten nach und nach ihre eigenen Geräusche hinzu und so fielen die Worte von Bett zu Bett oder sprangen hinüber zur Reihe auf der anderen Seite, schössen von Kopf zu Kopf: Worte kamen jetzt nicht mehr von einer oder zwei Stellen, sondern aus zahlreichen, unzählbaren Quellen. Anna Tap sagte an diesem Punkt, daß dies die Geräusche waren, die sie am meisten liebte, wenn jeder aufgeregt sprach, sich in seinem Bett aufsetzte, den neuen Mädchen viele Betten entfernt etwas zurief. Dies bedeutete für sie Gesellschaft, notwendige Geräusche von Gesellschaft. Die Mädchen in diesem Schlafsaal schüttelten sich die Hände, imitierten Erwachsene, tasteten in der Dunkelheit nach einander, rochen die Stimmen der anderen, erzählten von ihrem bisherigen Leben. Und wenn ein Kind eine ganz besonders traurige oder furchterregende oder

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