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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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witzige oder ergreifende Lebensgeschichte erzählte, dann wurde es aufgefordert, in einen anderen Teil des Raums zu gehen, damit auch andere sie hören konnten. Diese Aufgabe, das Sichten und Austauschen von Geschichten, wurde von den älteren Mädchen übernommen, die schon Wochen oder Monate dort waren. Sie fungierten als Redakteure, Organisatoren, kontrollierten die Nächte nicht gewaltsam, sondern halfen weiter, ermutigten jedes neue Kind zu sprechen. Aber jede Nacht endete verheerend.
    Die älteren Mädchen, die nicht aufgrund ihres Alters so genannt wurden, sondern wegen der bereits im Schlafsaal verbrachten Zeit, hatten sich Nächte und Nächte die Geschichten angehört und erwarteten diese Tageszeit gierig. Sie waren hervorragende Zuhörer und stolz auf ihr ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie hörten zu, ohne zu unterbrechen, nickten an den richtigen Stellen oder machten mitfühlende Mienen oder lachten bei Bedarf. Wenn aber eine Geschichte zu Ende war und bereits einige Nächte alt, dann hörten wir sie häufig wieder. Dieses Mal würde sie von einem älteren Mädchen erzählt, das sie übernommen hatte, aber bei ihrem Leben schwören würde, daß ihr dies alles tatsächlich widerfahren war. Und das war der Punkt, an dem stets der Ärger begann. Auch wenn Namen und kleinere Ereignisse abgeändert wurden, im Laufe des Tages überarbeitet, um für die nächtliche Vorführung bereit zu sein, war die Quelle doch nicht zu verleugnen. Häufig hörte das Mädchen, die Urheberin, die eine Geschichte erzählt hatte, wie diese von einer Älteren für sich in Anspruch genommen wurde und reagierte heftig darauf. Obwohl ihre Geschichte wahr sein mochte oder vielleicht auch nicht, enthielt sie mit Sicherheit einen Kern an Wahrheit und häufig umfasste dies die eine geliebte Person, ein Tier, einen Gegenstand oder einen Zwischenfall, welcher von dem Kind wie ein kostbarer Schatz gehütet worden war und jetzt, als es seine eigene Geschichte aus dem Mund einer anderen hörte, war es, als hätte jemand sein Leben gestohlen. Anna Tap erklärte, daß sie nichts besaßen, kein Gepäck hatten, selbst die Kleider, die sie trugen, gehörten dem Waisenhaus. Wenn ein Kind mit eigenen Kleidern ankam, dann wurden sie ihm weggenommen, wenn nötig, auch mit Gewalt und es sah sie nie wieder. Man wußte von Einschüchterungsversuchen seitens der stärkeren Mädchen, die solche Kleidungsstücke an sich nahmen und dadurch eine Individualität für sich beanspruchten, die nicht ihre eigene war.
    Die Geschichten, die man den neuen Mädchen entlockte, wurden gestohlen und wie nach dem Verlust liebevoll aufbewahrter Photographien oder Briefe hatten sie das Gefühl, daß sie plötzlich nie einer Vergangenheit angehört hatten, einem Ort und Menschen. Geschichten und Erinnerungen waren alles, was sie noch besaßen und sie kämpften darum, wenn sie ihnen gestohlen wurden, sie schlugen leidenschaftlich um sich, bissen, zogen an Haaren. Häufig geschah es, daß mehrere der älteren Mädchen dieselbe Geschichte stahlen; denn sie wurden ihrer eigenen Erzählungen überdrüssig und änderten sie bis zu dreioder viermal wöchentlich ab. Und wenn es geschah, daß dieselbe Geschichte von zwei oder drei oder vier Mädchen gestohlen wurde, begann ein größerer Kampf um deren Besitz, bisweilen wurde die Urheberin selbst darin verwickelt, bisweilen schaute sie in Tränen aufgelöst zu.
    Mit dem Beginn der Kämpfe hörten die Geschichten auf für diese Nacht, die Geräusche wurden hässlich, jetzt hörte man des öfteren Weinen, Betten wurden verschoben, Kinder brüllten, wenn sie in die Auseinandersetzungen verwickelt wurden, Köpfe wurden gegen Betten geschlagen. Und dann kehrten die Verwundeten genau wie die Sieger langsam zu ihren Betten zurück und für eine Weile hörte man vielleicht noch ein leises Schluchzen, dann herrschte Stille. Wenn dann noch jemand, neues Mädchen oder Ältere, irgend etwas sagen sollte, auch wenn es nur ein Flüstern war, wurde sie sofort durch ein kollektives Halt die Klappe zum Schweigen gebracht. Und das Schweigen hielt an bis zur nächsten Nacht, wenn alles wieder von vorne beginnen würde.
    Der Schlafsaal war ein Museum von Geschichten, wahre, gestohlene, veränderte. Und die Direktoren waren die älteren Mädchen, die jedoch die Arbeiten nicht katalogisierten, sondern vermischten, beseitigten, verloren.
Francis Orme erinnerte sich (2)
    Der Abschnitt von Miss Taps Geschichte über die Besitztümer von Kindern (beziehungsweise

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