Das verlorene Observatorium
sie, die Anna hieß. Weiterhin schrieb sie, daß sie inzwischen Angst vor Hunden habe und ihre Nähe nicht ertragen könne. Arme Anca, sie wußte immer noch nicht wirklich, wer sie war, aber sie studierte ihre alten Sachen, um es herauszufinden. Sie nahm ihr Leben wieder auf, ohne seinen Sinn zu hinterfragen. Anna Tap sagte, sie sähe auch keine andere Möglichkeit für sie.
Wir hörten nie wieder von ihr.
Der Pförtner räumte auch Zwanzigs Wohnung aus. Aufgrund der Löcher in der Decke, durch die es hineingeregnet hatte, war alles sehr feucht; Lebensmittelreste, die in Mülltonnen gefunden worden waren, lagen überall auf dem Boden herum und verfaulten; man fand Knochen und Hundehaare, getrocknetes Blut, Urin und Scheiße. Der arme Pförtner, er schrubbte alles blitzblank.
Die Zeit der Stille
Kurz nach der Zeit der Erinnerungen, die Peter Bugg und Zwanzig mit sich genommen hatten, traten wir in die Zeit der Stille ein. Zum Schluß gehen einem selbst die Erinnerungen aus, sogar sie haben ein Ende. Keine Erinnerung hält sich für eine Ewigkeit, denn andernfalls müßte sie eine Verbindung zur Gegenwart haben. Und niemand kann sich an die Gegenwart erinnern. Die Gegenwart ist der Mörder aller Erinnerungen. Vater lebte dort, in der Gegenwart, an diesem Ort ohne Erinnerungen. Nachdem so viele Erinnerungen erzählt worden waren, beschlich uns ein Gefühl der Unzufriedenheit. Wir sahen einander an und dachten : Ist das alles? Das bist du? Mehr bist du nicht? Nun ja, wenn du das bist, wenn das alles ist, was dich ausmacht, dann bist du gar nicht mehr so bemerkenswert. Ich kenne jetzt deine Geschichte, mehr gibt es für mich nicht zu erfahren, und urplötzlich weiß ich nicht mehr, was ich dir noch sagen soll. Ganz ehrlich, vielleicht bist du sogar ein bißchen langweilig, du hättest mir nicht alles erzählen dürfen, du hättest etwas zurückhalten sollen, um mein Interesse lebendig zu halten. Aber nachdem ich jetzt alles über dich weiß, sehe ich mich auf einmal außerstande, noch mit dir zu reden. Ich ziehe es vor, nichts mehr zu sagen.
Die Zeit der Stille, da sie ja eine Zeit der Stille war, hatte nur wenig über sich zu erzählen. Es passierte sehr wenig, außer Stille. Niemand sprach. Wir behielten unsere Stille für uns, fütterten sie, schliefen mit ihr, atmeten sie ein. Von Zeit zu Zeit jedoch ergab es sich, daß wir an einem unserer Mitbewohner vorbeikamen, auf der Treppe vielleicht oder in der Eingangshalle, im Park oder auf der Straße. In diesen Fallen gingen wir einfach schweigend weiter, so als hätten wir die Person nicht gesehen. Vielleicht nickten wir uns kurz zu. Doch kein Wort wurde gewechselt. Wir konnten nicht sprechen, unsere Zungen waren von einer schrecklichen Lähmung beschwert. Unsere Lippen öffneten sich allein für Nahrung oder Getränke, zu anderen Zeiten blieben sie starr.
Ich ging wie gewohnt zur Arbeit und erreichte sowohl innere wie äußere Reglosigkeit. An meinen freien Tagen besuchte ich den Park. Bei einem dieser Besuche im Park sprach mich der Waagenmann an, brach für einige Sekunden die Stille, bevor ihm der Druck der Zeit wieder die Lippen verschloß. Das Mädchen, sagte der Waagenmann, und ich vermutete, er meinte Anna Tap, wird immer dünner. Das war alles. Ich dachte nicht weiter darüber nach.
Miss Tap besuchte weiterhin die heilige Lucia, um zu ihr zu beten, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause fand ich ihre achtlos auf den Bürgersteig geworfenen Zigarettenstummel. Diese sammelte ich weiter. Oft war der Pförtner in Miss Taps Gesellschaft zu sehen, gleichwohl sie auf ihren nachmittäglichen Spaziergängen der Zeit der Stille gehorchten. Tatsächlich hatte ich jetzt den Eindruck, da der Pförtner nicht unerhebliche Zeit mit Anna Tap verbrachte (obwohl sie kaum miteinander sprachen), daß in ihrem Nicken und Lächeln eine gewisse Wärme und Herzlichkeit zu liegen schien. Der Pförtner schien ein glücklicherer Pförtner zu sein, er zischte weniger und er räumte weniger auf.
Miss Tap übernahm Peter Buggs Pflichten: Sie ging für Claire Higg einkaufen, sie wechselte meinem Vater die Windeln. Der Pförtner gab ihr einen Schlüssel zu Wohnung 6, wobei er zweifellos vorher einen Zweitschlüssel für sich selbst anfertigen ließ. Ich hinterließ eine Notiz für Miss Tap:
1. Betreten Sie nicht das Zimmer meiner Mutter.
2. Betreten Sie nicht das Zimmer von Francis.
Bei einem ihrer Besuche in Wohnung 6 schlenderte sie in Mutters Schlafzimmer, und als ich von der Arbeit
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