Das verlorene Regiment 01 - Der letzte Befehl
über genau dieses Thema ausgetragen und über aller Widerwillen gegenüber dem System der Bojaren, der Kirche und der Bauern.
Niemand sagte etwas, und Hawthorne spürte die nervöse Spannung, die seine Informationen heraufbeschworen hatten.
Kal beugte sich zu ihm hinüber und lächelte.
»Es ist so ein schöner Abend draußen«, sagte er leise. »Ein junger Mann wie du sollte nicht in einem Kreis solch alter Leute wie uns festsitzen, besonders nicht, wenn eine junge Dame liebend gern mit ihm spazieren gehen würde.«
Vincent wusste, dass er praktisch hinausgeschickt wurde, aber als er Tanja anblickte, freute er sich über die Gelegenheit, mit ihr allein sein zu können.
Das junge Paar stand auf und ging zur Tür. Vincent drehte sich noch einmal um und verneigte sich zum Zeichen des Respekts auf suzdalische Art vor der Versammlung, worauf die Männer lächelten und nickten.
»Du hast viele weise Dinge gesagt«, flüsterte Tanja.
»Ich hoffe nur, dass ich kein Problem geschaffen habe«, sagte er.
Kopfschüttelnd fasste ihn Tanja an der Hand, und sie spazierten zum Flusstor; sie tauschten freundliche Grüße mit den Soldaten aus, an denen sie vorbeikamen, und mehr als einer von ihnen betrachtete neidisch das hübsche Mädchen an Hawthornes Seite.
»Gehen wir doch am Fluss spazieren«, schlug Tanja vor, und Vincent stimmte ihr gern zu.
Sie ließen das Fort hinter sich und folgten dem Ufer, während die Felder und das fließende Wasser im Licht des Rades und des Halbmonds am Himmel glänzten. Sie erreichten einen Hain aus turmhohen Kiefern und gingen zwischen den Bäumen einher, die an die Säulen eines Doms erinnerten; die Nadeln knirschten unter ihren Füßen, und die Luft war erfüllt vom frischen, durchdringenden Duft des Waldes.
Es war das erste Mal, dass sie wirklich unter sich waren, und Vincent spürte, wie sein Herz zitterte. In Maine war dergleichen schlicht unbekannt, und selbst nach Bekanntgabe der Verlobung hätte ein Paar, das auf diese Weise nachts allein spazieren ging, Kommentare provoziert.
Sie wurden langsamer und blieben stehen.
Tanja legte Vincent den Arm um die Taille, und ganz sachte fuhr sie ihm mit der anderen Hand über die Wange und um den Hals.
Ihre Lippen suchten seine, strichen leicht darüber, hefteten sich dann auf sie.
Mit weit offenen Augen starrten sie einander an, als der Kuss nicht mehr enden wollte, sondern eher an Leidenschaft zulegte. Erschrocken über die eigenen Gefühle hätte sich Vincent am liebsten gelöst, aber dessen ungeachtet schlangen sich seine Arme um Tanjas Taille und zogen sie an ihn.
Schließlich glitten ihre Lippen auseinander, aber Tanja machte weiter, küsste ihn auf Wange und Hals, eifrig bedacht, noch mehr zu erkunden.
»Wir sollten zurückgehen«, flüsterte Vincent heiser.
Erneut suchten ihre Lippen seine, und entsetzt spürte er, wie seine Entschlusskraft schwächer wurde, wie der eigene Körper reagierte und auf eine Art und Weise nach Tanja verlangte, die sich auszumalen er sich nie gestattet hatte.
Er schob sie weg.
»Es ist eine Sünde«, keuchte er. »Wir dürfen das nicht!«
Tanja lachte leise.
»Mein Geliebter, mein Geliebter.«
»Und ich liebe dich«, sagte Vincent und sprach damit endlich aus, was er seit Wochen im Herzen trug.
»Falls wir uns lieben, dann ist es vor den Augen meines Volkes keine Sünde«, flüsterte das Mädchen.
»Und dein Vater?«, fragte Vincent lahm.
»Er erfährt es nie, und selbst wenn doch, würde er es verstehen«, sagte Tanja sanft. »Wir haben vielleicht nur so wenig Zeit, Vincent. Perm versteht es.«
Sie warf sich in seine Arme, und die Frage, die sich bei ihrer Äußerung zu formulieren begonnen hatte, entschwebte wieder, während sie beide sachte zu Boden sanken, eng umschlossen in leidenschaftlicher Umarmung.
»Ihr seht – es ist so, wie ich euch gesagt habe«, sagte Kal, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.
»Es kann nicht stimmen!«, entgegnete Ilja scharf. »Wer hätte je von so etwas gehört – einer umgekehrten Welt, in der Bauern Adlige stürzen, Kirchen keine Macht haben, Menschen Kriege führen, damit andere Menschen frei sein können?
Nein, so etwas kann es nicht geben. Denn von jeher ist es so, dass Bauern schuften, Adlige fett werden und die Kirche reich wird.«
»Aber sie haben ihre Welt verändert.«
»Vielleicht lügt er«, warf Wassilia ein.
»Das denke ich nicht«, entgegnete Boris.
»Nur zu, Boris, erkläre, warum nicht.«
»Ich bin täglich im Lager der
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