Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
zu sprechen, war eine der ersten besonderen
Fähigkeiten gewesen, die Aschure bewiesen hatte, und
sie entwickelte diese Fertigkeit Tag für Tag weiter.
Wenigstens das gelang ihr.
Das Kind nickte ernst, denn es schämte sich, seiner
Mutter Ungemach zugefügt zu haben.
Axis hob den kleinen Jungen hoch und setzte ihn sich
auf die Knie. Das Kind streckte die pummeligen Ärmchen aus, und nach einem Moment des Zögerns nahm
Aschure seine winzigen Hände in die ihren.
Von neuem begannen sie nun. Caelum benutzte seine
innere Stimme, um mit seiner Mutter zu sprechen – das fiel
ihm leichter, als seine immer noch widerspenstige Zunge
zu gebrauchen. Aschure schloß die Augen und sammelte
sich, aber als der Junge das Lied beendet hatte und die
Reihe an ihr war, entströmten ihrem Mund solch mißtönende Klänge, daß die drei Zauberer das Gesicht verzogen.
»Sinnlos«, erklärte die junge Frau und wandte sich ab,
um ihre Tränen vor den anderen zu verbergen.
»Aschure«, meinte Sternenströmer, »niemand weiß,
wie verändert Wolfstern durch das Sternentor zurückkehrte. In welchem Ausmaß sich seine Macht durch die
Erfahrungen jenseits des Sternentores wandelte. Ich halte
es für sehr wahrscheinlich, daß durch Wolfsterns Erbe
eine Kraft auf Euch gekommen ist, die sich von allem
unterscheidet, was die Ikarier in der Vergangenheit
kannten. Vielleicht ist sie so anders, daß die traditionellen Methoden der Ausbildung bei Euch versagen. Ihr
könnt Eure Macht nicht einmal in der althergebrachten
Weise benutzen. Axis?« Seine Stimme nahm einen
entschiedenen Tonfall an. »Aschure verfügt offensichtlich über Macht, denn wir beide waren Zeuge, als sie den
Greifen in Stücke riß.«
Der Sternenmann nickte, und Aschure wischte sich
schließlich die Augen und starrte Sternenströmer an.
»Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie Aschure
Macht benutzte, Dunkle Musik, um den Greifen zu
vernichten, der sie und Caelum bedrohte, aber wir haben
sie nicht singen gehört!«
»Bei den Sternen!« stieß Axis hervor. Warum war ihm
das nicht eingefallen?
Sternenströmer lachte unvermittelt auf, und sein schönes Gesicht strahlte vor Freude. Er setzte Caelum auf den
Boden und ergriff die Hände der jungen Frau. »Aschure!
Ihr verfügt über Macht, über großartige Macht, aber sie
unterscheidet sich grundlegend von der, die wir kennen.
Deshalb wissen wir nicht, wie wir Euch ausbilden sollen.
Vielleicht können wir Euch ohnehin nichts beibringen.«
Aschure lächelte, während sie Sternenströmers Worte
in sich aufnahm. »Aber was nützt dann eine solch
großartige Macht, Sternenströmer, wenn ich sie nur dann
anwenden kann, sobald ein Greif über mich herfällt?«
Trotz der Sorge, die in ihren Worten mitklang, hörte
sich Aschures Stimme gelöster an, und ihr Tonfall war
weniger ernst.
»Aschure«, erklärte Axis, »aus vielerlei Gründen mag
es Euch schwerfallen, Eure Macht zu benutzen. Sternenströmer hat vielleicht den wichtigsten entdeckt. Aber Ihr
habt Eure Macht über so viele Jahre höchst wirkungsvoll
unterdrückt. Deshalb wundere ich mich nicht, daß es
Euch fast unmöglich ist, sie willentlich hervorzurufen.«
Die junge Frau dachte über seine Worte nach, und
alles Strahlende verschwand aus ihrem Gesicht. Während
der letzten Nächte hatten verschwommene, beunruhigende Träume ihren Schlaf gestört. Sie hatte besorgniserregende Stimmen vernommen, aber nach dem Aufwachen
konnte sie sich an keine Einzelheiten mehr erinnern.
Handelte es sich dabei um einen Ausdruck ihrer jüngst
freigesetzten Macht, die entfesselt an die Oberfläche
drängte? Vielleicht sollte sie mit Axis ausführlich
darüber reden – aber als ihr Gemahl nun weitersprach,
vergaß sie jeden Gedanken an ihre Träume.
»Und«, fuhr Axis fort, »unsere ungeborenen Kinder
könnten ebenfalls eine Blockierung verursachen.«
Drei Tage zuvor hatte Axis dem Recht und der Pflicht
eines jeden ikarischen Vaters entsprechend, ihre Zwillingskinder erweckt. Als er seinerzeit den noch ungeborenen Caelum in Aschures Leib ins Bewußtsein gerufen
hatte, war das ein freudiges Ereignis gewesen. Aber das
Erwachen der Zwillinge – wie überhaupt diese gesamte
neue Schwangerschaft – verlief ganz anders. Die Kinder
hatten miterlebt, daß Axis Aschure dazu gezwungen
hatte, sich an den Tod ihrer Mutter und ihre eigenen
körperlichen wie emotionalen Qualen unter Hagens
Händen zu erinnern. Gemeinsam mit ihr und Axis
erlebten die beiden ungeborenen Kinder
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