Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
errichtet worden, die wie senkrecht stehende
Dolche in den Himmel aufragten. Das Bauwerk mußte
nach Timozels Schätzung doppelt so hoch sein wie der
Turm des Seneschalls am Gralsee und mindestens
doppelt so umfangreich.
Die Eisfestung war von unvergleichlicher Schönheit.
Zwischen Violett und Rosa changierende Farbtöne
schimmerten dort auf, wo die Strahlen der Sonne die
Eiswände trafen, die sie auf mannigfache Weise reflektierten.
»Wunderschön«, flüsterte der Jüngling, »einfach
unfaßbar wunderschön.«
»Ja, das ist wahr«, stellte Freund fest, nahm Timozel
beim Arm und zog ihn vorwärts. »Sagte ich nicht, Ihr
würdet Gorgrael für würdig befinden, in seine Dienste zu
treten? Könnte jemand, der so düster und verzweifelt ist
wie der Zerstörer aus der Prophezeiung der Unaussprechlichen, inmitten solcher Schönheit leben? Nein! Nun
kommt.«
Die äußere Schönheit der Eisfestung setzte sich in ihrem
Inneren fort. Hinter den Eiswänden der Korridore
krümmten sich mitnichten jene gräßlichen Schatten, die
Timozel aus seinen Alpträumen und Visionen kannte.
Eine erhabene Stille ging von diesem Ort aus, und alles
war hell und strahlend.
Der vom sanften rosa Licht unsichtbarer Lampen
erleuchtete Gang führte geradewegs ins Herz der
Eisfestung. Gorgrael hat sich alle Mühe gegeben, dachte
der Dunkle. Sehr viel Mühe. Er warf einen flüchtigen
Blick auf seinen Begleiter. Der junge Mann ging stetig
vorwärts, und ein verträumter Ausdruck lag auf seinen
Zügen.
Aber das änderte sich, sobald sie um eine Ecke bogen
und Timozel feststellte, daß sich vor ihm ein Abschnitt
des Ganges erstreckte, den er in seinen Alpträumen
gesehen hatte. Er erkannte ihn wieder, weil sich an
seinem Ende die massive Holztür befand, an die seine
treulose Hand im Traum geklopft hatte, um Gorgrael
herbeizurufen.
»Nein!«
»Timozel, mein Junge«, sagte der Dunkle, und der
Jüngling spürte den festen, beruhigenden Griff einer
Hand auf der Schulter. »Was Ihr träumtet, entsprach
nicht der Wahrheit, sondern spiegelte den verderblichen
Einfluß der Unaussprechlichen wider. Niemand empört
sich mehr darüber, daß man Euch in Angst und Schrekken versetzt hat, als Gorgrael selbst.«
»Wirklich?« fragte Timozel aus dem verzweifelten
Wunsch heraus, Freunds Erklärung glauben zu dürfen.
»Wirklich und wahrhaftig«, beruhigte ihn Freund und
umfing Timozels Geist so fest mit Zauberei, daß dieser
nicht die geringste Möglichkeit hatte, Wahrheit und Lüge
unterscheiden zu können. »Nun, wollen wir nicht
weitergehen?«
Gorgrael stand in der Mitte des Raumes und fuhr seine
Krallen aus, als sich die Tür öffnete und Lieber Mann mit
Timozel eintrat. Das leichenblasse Gesicht des Jünglings
wirkte trotz des beruhigenden Zaubers des Dunklen
angespannt, und Furcht verzerrte seine Züge, sobald er
den Zerstörer erblickte.
Wie konnte eine solch abstoßende Kreatur – eine
derart entsetzliche Mißgestalt – etwas anderes sein als
eine Verirrung der Natur?
Die von Gorgrael gesandten Alpträume waren schon
schrecklich genug gewesen, aber der Zerstörer hatte auch
Timozels zauberische Vision heimgesucht und den
jungen Mann schließlich unerbittlich dazu gezwungen,
ihm seine Seele zu verpfänden.
Und jetzt trat dieser Schrecken höchstpersönlich auf
ihn zu, breitete die klauenbewehrten Hände zum Willkommensgruß aus und senkte den Kopf mit den Stoßzähnen, als beschäme ihn der Umstand, daß Timozel seine
Erscheinung abstoßend fand. In unbewußter Nachahmung der Art, wie die Ikarier Demut zeigten, spreizte er
die Flügel und verschluckte fast seine übergroße Zunge
bei dem Versuch, sein Maul zu etwas zu verzerren, was
einem Lächeln halbwegs nahekam.
Dem Jüngling schwanden fast die Sinne, und er
schwankte tatsächlich vor und zurück, aber Freund hielt
ihn am Ellenbogen fest. »Ruhig, ganz ruhig«, flüsterte er.
»Nehmt all Euren Mut zusammen und betrachtet dies
hier als Probe. Verfügt Ihr über den Mut, das Richtige zu
tun und die Freiheit sowohl für Achar als auch für
Faraday zurückzugewinnen?«
»Ja«, murmelte Timozel, »ja, diesen Mut besitze ich.«
Er straffte seine Schultern. »An Mut soll es mir nicht
mangeln«, erklärte der Jüngling dann mit festerer
Stimme.
»Timozel«, begann Gorgrael, und die Macht und die
Kraft in seiner Stimme bewirkten, daß der Jüngling leicht
zusammenzuckte. Aber er starrte der Kreatur unerschrocken in die silbrigen Augen.
»Timozel, seid Ihr
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