Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
Sicherheit. Tut, was Euch gefällt. Habt Ihr
eine Tochter, die …?« Sternenschein ließ die Frage
unausgesprochen.
Die Bäuerin schüttelte den Kopf. »Nein. Keine meiner
Töchter hat die Gabe. Ich war froh darüber, denn ich
nahm an, daß ihnen so nichts geschehen könnte. Aber
jetzt … jetzt bin ich traurig. Ich hätte mir eine Tochter
gewünscht, die weitermacht.« Unvermittelt bemerkte die
Bäuerin, daß sie alle Scheu vor den Ikarierinnen verloren
hatte und mit ihnen schwatzte, als seien sie alte Freundinnen. Sie lächelte beschämt.
Sternenscheins Lächeln verschwand, als sie sich nach
vorn lehnte und die Hand ausstreckte, um sie auf die
Stirn der Bäuerin zu legen. »Ganz ruhig, ich tue Euch
nicht weh. Ich möchte Euch nur helfen, Euch zu erinnern.«
Heitere Musik durchströmte den Körper der Frau, und
sie keuchte. »Oh, ich hatte soviel vergessen!«
»Schlummernde Talente geraten leicht ganz in Vergessenheit, Bäuerin Renkin.« Sternenschein lehnte sich
zurück und hatte vor Anstrengung die Farbe aus dem
Gesicht verloren. Sie hatte einen machtvollen Zauber
verwendet und würde ein oder zwei Tage ausruhen
müssen, bevor sie nach Karlon weiterfliegen konnte.
»Sorgt dafür, daß Ihr das alles nicht wieder vergeßt.«
Die Bäuerin nickte.
»Sorgt dafür, daß Ihr das, woran Ihr Euch erinnert
habt, auch gut anwendet, Teuerste, denn dieses neue
Land braucht jetzt Euresgleichen.«
Nachdem die beiden Zauberinnen sie verlassen hatten,
saß die Bäuerin noch lange da, ohne das Treiben auf der
Straße wahrzunehmen.
Erinnerung.
Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, zu
jung, um schon bei der Feldarbeit zu helfen, hatte ihr die
Großmutter Geschichten erzählt und ihr das Wissen über
Kräuter beigebracht. Kräuter und Zaubersprüche. Nichts,
was wirklich gefährlich gewesen wäre, nichts Böses,
lediglich Kräuterrezepte, die, zusammen mit den
Zaubersprüchen angewendet, vor Verletzungen und
Ansteckung schützten, das Gemüt beruhigten oder einen
Liebeszauber bewirkten. Einfache Dinge, aber Grund
genug für den Seneschall, ihre Großmutter festzunehmen
und zu verbrennen.
Seit dem Tag, an dem die Priester ihre Großmutter
ergriffen hatten, hatte das junge Mädchen ein makelloses
Leben geführt. Niemals wieder, oder jedenfalls so gut
wie niemals, verwendete sie die Kräuter, niemals wieder
sprach sie die Zaubersprüche aus, bestenfalls ein oder
zwei Schlaflieder. Im richtigen Alter heiratete sie dann
Bauer Renkin und lebte mit ihm ein vorbildliches Leben
in ihrem bescheidenen Heim.
Vorbildlich … und ereignislos.
Seltsamerweise hatte sie ihr Leben vor dem kurzen
Besuch der edlen Faraday nie für langweilig gehalten.
Bis zu diesem Tag hatte sie kaum jemals an ihre Großmutter und deren Geschichten und Unterweisungen
gedacht.
Aber nachdem die Dame weitergereist war, nachdem
Frau Renkin versucht hatte, zu ihrem alten Leben
zurückzukehren, entdeckte sie, daß es geradezu verblüffend langweilig war. Die Bauersfrau sehnte sich nach
Aufregung und Abenteuer. Sie überraschte sich selbst
dabei, alte Verse vor sich hin zu murmeln, wenn sie
einen Eintopf zubereitete, und Wildkräuter zu pflücken,
wenn sie ihre Schafe über die ausgetretenen Pfade von
Nordarkness trieb. Frau Renkin hatte damit begonnen,
einen Blick über die Schulter zu werfen, nachdem ihr der
Tag wieder ins Gedächtnis gekommen war, als sie
kamen, um ihre Großmutter zu holen. Das Donnern der
Pferdehufe. Das bösartige Schimmern ihrer Äxte.
Sie holte tief Luft. Was sollte sie tun?
Nach Hause gehen. Was blieb ihr anderes übrig? Sie
erhob sich und nickte dem Gastwirt zu, während sie
hinaus auf die Straße trat. Sie hatte das Geld für die
Schafe – immerhin eine beachtliche Summe –, sie trug
ihr Gepäck bereits in der Hand, und weiter blieb ihr
nichts mehr zu tun.
Aber würde sie ihre Gaben anwenden können, wenn
sie nach Hause zurückkehrte? Bauer Renkin würde nicht
eine davon dulden, solange sie draußen auf den Feldern
arbeiten konnte, und keines ihrer Kinder würde die alten
Fähigkeiten lernen wollen.
Aber sie wollte nicht den Rest ihres Lebens damit
zubringen, Kräuterumschläge auf von Hühneraugen
geplagte alte Füße zu legen.
Die Bäuerin hielt mitten auf der Straße kurz vor dem
Marktplatz inne, und Unsicherheit zeigte sich deutlich
auf ihrem ehrlichen Gesicht. Und genau in diesem
Augenblick entdeckte sie Sternenschein, die ein paar
Schritte von ihr entfernt dastand, die Flügel auf
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