Das Vermaechtnis
denn er würde zwar im Schatten stehen, seine Zuhörer aber nicht. So humpelt Tanobakt ein bisschen bis zur Mauer, fragt kurz Burgon , den Wächter, ob es jetzt passen würde, wenn er für die Zeit des Enûma elîsch hier stehen würde und mit ihm auch Kyr mit der Harfe und eben die Zuhörer und Zuhörerinnen, die vorbeikämen.
„Das gefällt mir Tanobakt , und nicht nur mir – es ist durchaus in Marduks Sinne, dass seine Schöpfungsgeschichte auch hier vorgetragen wird. Du bist im Palast bekannt als gewissenhafter Erzähler. Die Harfe unterstützt noch die Dramatik. Da haben wir hier fast unser eigenes Theater. Ich werde es nur der Sicherheit wegen auch an den Palast weitertragen lassen, damit sie dort und auch die Priester des Marduk darüber informiert sind.
Währenddessen könnt ihr getrost schon beginnen. Ich stelle mich dann auf die gegenüberliegende Seite, von wo ich alles im Überblick habe. Mehr Wächter als ich von dieser und ein anderer von der anderen Seite sind nicht nötig – es sind um die Mittagsstunde nicht viele Menschen unterwegs, die zu beaufsichtigen wären. Alles ist ruhig. Die nächste Karawane trifft auch erst in etwa zwei bis drei Stunden ein, wurde mir mitgeteilt, dann wird es wieder laut. Ihr könnt also gleich beginnen.
Und ich bin gleich wieder zurück.“ Burgon geht mit großen kräftigen Schritten los in Richtung Palast und Tanobakt langsam über den Markt. Dabei ruft er laut:
„Kommt mit mir, ihr Leute! Kommt mit! Ich erzähle euch die große Schöpfungsgeschichte unseres Herrn Marduk , das Enûma elîsch ! Wer hat es noch nicht gehört? Wer will es noch einmal hören? So kommt jetzt mit! In kurzer Zeit beginne ich. Kyr mit der Harfe begleitet mich! Kommt mit nach vorn an die Mauer auf der linken Seite des Tores! Kommt mit mir, ihr Leute! Kommt mit!“
Er ruft es mehrere Male, als würde er die beste Ware seines Standes lauthals anpreisen wollen. Im Nu scheren sich viele Kinder allen Alters um ihn, wobei die Kleinsten wahrscheinlich nicht viel verstehen und sich vielleicht sogar fürchten werden. Aber sie sind ja in Gesellschaft der älteren Kinder. Wenn sie sehen, dass diese sich nicht fürchten, sondern nur gespannt zuhören, dann werden sie es ihnen einfach nachmachen, ob sie es verstehen oder nicht. Als er nach vorn zum Tor geht, stehen und sitzen auch dort im Schatten schon viele, auch Ältere, und so mancher Marktverkäufer. Eine schöne Gruppe, stellt Tanobakt zufrieden fest.
Er stellt sich neben Kyr , der zwei Schemel mitgebracht hat. Die meisten setzen sich um die beiden herum, weiter hinten stehen ein paar an die Mauer gelehnt.
Jetzt freut er sich wirklich darauf. Es ist lange her, dass er es das letzte Mal vorgetragen hatte, sehr lange.
„Es ist soweit! Ihr lieben Zuhören, ich will euch nun das Enûma elîsch erzählen. Es ist, wie ihr ja wisst, das große Werk unseres Herrn Marduk . Gleich seiner Größe ist es ein langes Werk von sieben Tafeln. Jede ist beschrieben mit 115 bis 170 Zeilen. Ich werde es euch mit meinen eigenen Worten erzählen, auch wenn ich die eine oder andere Zeile auswendig aufsagen könnte. Aber, wie ihr ja alle wisst, ist das Rezitieren der heiligen Worte nur Hohepriestern vorbehalten. Das Enûma elîsch beschreibt die Entstehung von Himmel und Erde und den Aufstieg unseres Bel Marduk zum obersten und größten aller Götter, so, wie wir ihn kennen. Ihr hört nun die Worte, wie sie schon seit vielen hundert Jahren, seit der Zeit des großen Königs Hammurabi , vernommen werden konnten.
Zu der Zeit, als droben die Himmel noch nicht genannt waren und auch die Erde noch keinen Namen hatte, waren nur Abzu, der Uranfängliche, der Süßwasserstrom, und Tiâmat, die, die alles gebar, der Salzwasserozean. Abzu umgab Tiâmat. Sie waren das erste Götterpaar überhaupt.
Aus ihnen entstand das zweite Götterpaar Lachmu und Lachamu und der feste Boden bildete sich durch sie. Äonen vergingen und das dritte Götterpaar entstand mit Anschar und Kischar. Anu, der Himmelsgott, war ihr Sohn, ebenso stark wie sein Vater. Nudimmud und seine Geschwister wurden geboren, Anus Kinder. Und, wie Kinder nun mal sind, fingen sie an zu lärmen. Apzu, der Vater aller Götter, war erzürnt darüber, denn sie konnten tags nicht ruhen und nachts nicht schlafen. Apzu wollte sie deshalb vernichten, da sie keine Ruhe gaben, doch Tiâmat als ihre sanftmütige Mutter war dagegen. So kam alles in Bewegung…“
Kyr beginnt mit den zarten Klängen der Harfe und
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