Das Vermaechtnis
aufkommen spürt. Kurz zögert die Seherin, auch die anderen sind verunsichert, da sie eine andere Stimme vernehmen als seit Jahren gewohnt, doch eine innere Stimme in ‘Alana scheint die neue Fragerin zu akzeptieren, die Götter akzeptieren sie. So schließt sie ihre Augen und fährt mit einer tiefen Stimme fort:
„Sie kommen nicht sofort und auch nicht bald, sieben Generationen oder mehr wird es dauern, ehe die ersten neuen Siedler kommen. Sie kommen in Frieden, allerdings verstehen sie den Frieden anders als wir ihn kennen. Wir begrüßen sie und leben mit ihnen und sie mit uns. Und es werden wieder viele Jahre vergehen bis eine neue Welle von Siedlern zu uns kommt. Mit großen Kanus kommen sie, mehr als sechzig Menschen haben Platz darin und neue Tiere bringen sie mit. Kahiki – so heißt das Land weit weg über dem Meer, von dort kommen sie und von anderen Inseln und davor von – noch weiter weg – die Lapika . Die Lapika… “ Die Seherin scheint diesen Namen zu kennen und versucht ihn in ihrer Erinnerung zu finden. Dabei wiegt sie ihren Kopf etwas hin und her. Da sie nicht weiterkommt, fährt sie fort, ihre Bilder zu beschreiben „Sie fahren so gut wie wir auf dem Meer. Ähnliche Boote wie wir haben sie. Sie verstehen das Meer so gut wie wir. Wir verstehen uns mit ihnen.
Ein reges Hin und Her – von uns fahren einige dorthin und von dort kommen wieder neue Siedler zu uns. Friedlich. Vieles verändert sich in unserem Land. Vieles wird anders. Einen schönen Baum bringen sie mit, eine Palme mit guten großen Nüssen, die guuut schmecken, mit einem guuuten Saft. Es ist ein gutes Material in dem Baum, für vieles nützlich, starke Seile, gut für die Boote, gehen nicht kaputt, halten viele Jahre. Gut ist sie, diese Palme. Neue Tiere kommen, alte verschwinden, werden aufgegessen von den Menschen und von den Tieren, denn die Tiere sind Fleischfresser, die Tiere, die sie mitbringen. Die Tiere schmecken gut, aber ihnen schmecken auch unsere Vögel, die verlernt haben zu fliegen, die nicht mehr in den Bäumen ihre Nester haben sondern auf dem Boden, weil sie keine Bedrohung kennen, seit Jahrhunderten.
Unsere Tiere wehren sich nicht, laufen nicht weg, weil sie keine Furcht vor solchen Tieren kennen. Sie sind eine leichte Beute. Die neuen Bewohner unserer Inseln, sie rotten viele Tiere aus, unser großer Starkschnabel-Vogel wird zu einem moa-nalo , einem verlorenen Vogel. Er wird nie wiederkommen. Und unser schöner schwarzer ’alalā -Vogel, der viel spricht, wird es fast nicht überleben. Weil sie ihre Nester auf dem Boden bei uns haben und ihre Jungen schutzlos sind. Aus Unwissenheit, sicher. Aber es sind hier auch nur wenige, die ihnen sagen, dass das Gleichgewicht gewahrt werden muss. Aber…“, sie seufzt, „… Aber was nützt es, wenn die Menschen zwar darauf achten, aber die neuen Tiere über die Berge ziehen und sich wie in ganz alten Zeiten in dem Land der Fülle überall bedienen und alles auffressen, was sie sehen. Sie sind Tiere, sie wissen nicht, dass unser Land nicht das alte Land der Fülle ist, wo alles gleich nachwuchs und immerzu da war. Es sieht so aus, dass für jede Neuerung etwas altes Gewohntes gehen muss. Es ist kein Platz auf diesen Inseln für so viele. Kein Platz für so viele, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Zusammenwachsen müssen wir. Ganz langsam. Die aufgefressenen Pflanzen und Tiere erholen sich schwer oder gar nicht. Sie lieben die Feuergöttin, wie wir und bauen ihr kleine Häuser, Tempel, in denen dann die Altäre sind. Auch gut. Auch für die anderen Götter.
Aber dann – dann wird es schlimmer für unser Volk! Dann wird es schlimmer!“
Sie malt unsichtbare Zeichen in die Luft.
„Es kommt ein hoher Kahuna von weiter her – Pa’ao – Pa’ao heißt er, er ist voller Gewalt, er ist grausam, und er setzt die neuen Oberen ein, Könige, die Ali’i . Nur ihr Wort soll gelten. Er benutzt unsere Götter. Und – überall diese kapus… “ Sie deutet mit der Stockspitze auf einen jungen Mann vor ihr „Du darfst es!“. Und zu einer jungen Frau neben ihm „Du darfst es nicht!“ Zu einem Mann daneben: „Das darf keiner weil nur sie…“, sie zeigt in die Luft, „… sie allein dürfen es und sonst niemand! Nur sie allein! Nur die Ali’i !
Mächtig ist er, viel mana hat er. Er weiß es. Er verehrt die Götter nach seinen eigenen Regeln und zwingt alle, nach diesen Regeln zu leben. Alles ist jetzt kapu – kapu , das sind jetzt Vorschriften, Verbote,
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