Das Vermaechtnis
blassen Gesicht. Der Junge konnte nicht älter als vier sein. Bäckchen wie bei einem Baby und Hände, so winzig, dass es mich schmerzte, mir vorzustellen, dass ich zu spät kam. Seine Brust regte sich nicht, als ich mich auf den Rücken drehte und darum kämpfte, den kleinen Leib über Wasser zu halten, während ich versuchte, das Ufer zu erreichen.
Es war weniger als eine Bahn im Schwimmbad, aber es erschien mir eine unüberwindbare Distanz. Die Kälte fraß sich in meine Muskeln und lähmte mich. Meine Kleidung drohte mich, wie ein übermächtiger Feind, der sich nicht abschütteln ließ, in ein nasses Grab zu ziehen. Es war absurd. Das Wasser war nicht wirklich tief. Wenn ich mit den Füßen den Boden berührte, schlug es nur knapp über meinem Kopf zusammen, aber es würde allemal ausreichen, um zu ertrinken. Ich bemerkte, wie der Junge unter Wasser geriet, während ich verzweifelt versuchte, mich über Wasser zu halten. Scheiße!
Wasser drang mir in die Nase und, als ich hustete, auch in den Mund. Panisch ließ ich den Jungen los und schlug um mich, sodass ich meinen Kopf über Wasser bekam. Meine Augen tränten, und ich suchte nach dem Kind. Da!
Ich riss den kleinen Mann an mich und fühlte mich schrecklich, weil ich bei dem Versuch, ihn zu retten, so jämmerlich scheiterte. Ich stieß mich vom Boden ab und versuchte, meine Kräfte zu sparen, indem ich bewusst untertauchte, um mich dann mit einem Satz näher ans Ufer zu stoßen. Dabei konzentrierte ich mich darauf, den Kopf des Jungen immer über Wasser zu halten.
Meine Lungen brannten vor Anstrengung, Kälte und dem durchdringenden Verlangen nach Sauerstoff. Hinter meinen Augen begannen, helle Punkte zu tanzen.
Komm schon, Sam! Streng dich an – es ist nicht mehr weit!, spornte ich mich selbst an, meine letzte Kraft in den nächsten Sprung zu legen. Meine Beine waren so müde, und ich schaffte es kaum, die Wasseroberfläche lange genug zu durchbrechen, um ausreichend Luft einzuatmen, ehe mich mein Kleid wieder nach unten riss.
Ich konnte mich nicht orientieren. Meine Haare hatten sich wie Schlingpflanzen um mein Gesicht gewickelt und erschwerten mir selbst das Luftholen. Trotzdem nahm ich alles mit übernatürlicher Intensität wahr. Das kleine Holzstück, nicht größer als einer meiner Finger, das vor meinem Gesicht trieb, die moosgrüne Farbe des Wassers, wenn ich ins Licht blickte, und das Band, welches um meine Taille gebunden war und sich nun um meine kraftlose Wade gewunden hatte. Den schmächtigen Arm des Jungen, der meine Wange streifte, als wollte er mich liebkosen.
Beinahe hätte ich den Knaben in meiner Todesangst wieder losgelassen, als mein Fuß endlich auf Grund traf.
Himmel! Obwohl meine Beine zitterten, drückte ich mich hoch … und stand.
Ich schluchzte, schnappte nach Luft und presste das Kind an mich, als hielte ich mein eigenes flüchtiges Leben fest. Wie lange ich tatsächlich gebraucht hatte, mich ans Ufer zu kämpfen, wusste ich nicht, denn urplötzlich lief alles wieder in normaler Geschwindigkeit. Der Film, der beinahe angehalten hätte, lief weiter, und die Melodie, die immer langsamer geworden war, beschleunigte sich wieder zum Soundtrack meines Lebens.
Trotzdem bekam ich davon fast nichts mit, hielt nur das Kind in meinen Armen, für dessen Rettung ich fast mein eigenes Leben gelassen hätte.
„Kyle!“, drang schließlich ein Schrei in mein umnebeltes Bewusstsein, und kräftige Hände fassten mich unter den Achseln, hoben mich hoch und trugen mich ans Ufer. Als meine Knie ins Gras sanken, bemerkte ich erst, dass ich diese wenigen Meter alleine nicht mehr geschafft hätte. Ich ließ nicht los, als man versuchte, mir den Jungen aus meinen Armen zu reißen.
„Kyle, mo bailaich !“, flehte eine Stimme, und ich erkannte die Not des Vaters darin. Er löste meine verkrampften Finger und nahm seinen Sohn an sich, um sogleich Atem in dessen Mund zu blasen. Zitternd umklammerte ich meinen nassen Rock und weinte.
Ich weinte um Kyle.
Das Feuer im Kamin erfüllte die Kate mit seiner rauchigen Wärme. Fest in eine Decke gewickelt, saß ich auf einem Schemel nahe des Feuers in der Kate von Kyles Vater und hielt mich an meinem Becher mit heißem, honigfarbenem Met fest. Mein Gefühlsausbruch hatte mich fast genau so viel Kraft gekostet wie der Kampf gegen das Wasser, und ich fühlte mich schwach und verwundbar wie ein neugeborenes Baby. Der Honigwein gab mir Energie, und die Wärme legte sich wie eine schützende Hülle
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