Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
seine krummen Beine selbst zu bewegen. Einen Straßenzug weiter lieferte Amy die Hunde wieder ab, während Josie vor dem Haus auf sie wartete.
»Kommst du noch mit zu mir?«, fragte sie, als sie zurückkam. »Es tut gut, mit dir zu reden.«
Josie sah auf ihre Armbanduhr. »Okay, warum nicht.«
Das Haus, in dem Amy wohnte, war nur einen Straßenzug vom Knickerbocker entfernt und so wie das alte Hotel ein roter Ziegelkasten mit schmuddligweiß abgesetzten Gesimsen. Amy sondierte die Lage, dann steuerte sie mit langen Schritten auf einen Nebeneingang zu. Josie hatte Mühe, ihr nachzukommen. Rasch steckte Amy den Schlüssel ins Schloss und zog mit aller Kraft die Eisentür auf.
»Ist es hier passiert?«, erkundigte sich Josie beklommen, als sie ein enges Treppenhaus mit steilen Steinstufen betraten.
»Ja, genau hier!«
Josie taxierte überrascht die Tür. »Dieses schwere Ding soll der Wind aufgerissen haben? Noch dazu nach außen?«
»Außerdem ist hier immer abgeschlossen«, sagte Amy. »Keiner kann sich das erklären. Auch nicht die Polizei. Ich glaube, die denken an ein Verbrechen. Aber das kann nicht sein. Ich würde es fühlen. Ich weiß – Edna lebt. Ich weiß es einfach!«
Hintereinander stapften sie die Treppen hoch. Bereits im vierten Stock stöhnte Josie: »Wie weit ist es noch?«
»Noch mal so viele.« Ungerührt nahm Amy gleich zwei Treppen auf einmal.
»Achter Stock! Endlich!« Josie beugte sich prustend über den schwarz lackierten Handlauf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Der reinste Marathon!«
»Man gewöhnt sich an alles.« Damit öffnete Amy die Tür zum Gang und lugte nach draußen. Mit einer Handbewegung forderte sie Josie auf, ihr zu folgen. Auf der Etage befanden sich sechs Wohnungen. Amys lag unmittelbar neben dem Eingang zum Treppenhaus. Sie schob Josie rasch in einen fast quadratischen Wohnraum, von dem die Türen zu den übrigen Räumen abgingen. Josie fühlte sich in dem hell gestrichenen Zimmer mit den floral gemusterten Vorhängen sofort wohl und auch die altmodischen Nussbaummöbel strahlten trotz unübersehbarer Gebrauchsspuren etwas Gemütliches aus.
Amy nahm eine Packung Kaugummis vom Couchtisch und bot Josie einen an. Josie lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Amy schälte routiniert einen Streifen aus der Verpackung und schob ihn in den Mund. »Willscht du ’ne Coke?«
»’ne Coke wäre super!«
Während Amy in der Küche hantierte, sah sich Josie um. Der Kamin, auf dessen gemauertem Sims eine ganze Parade von Fotos stand, schien außer Betrieb zu sein. Auf den Fensterbrettern, der Anrichte, einem Beistelltisch – Bücher. Auf deckenhohen Regalen drängten sich Hunderte von Buchrücken, immer neue Bände schienen dazwischengeklemmt worden zu sein. Genau so sah es in Momas Bücherschränken aus. Auch auf dem Schreibtisch lag ein Stapel. Josie sah sich die Titel an. Im Reich der Naturgeister . Von Drachen und Monstern . Irland und seine Mythen . Die dunklen Seiten der Fantasie . Teufel, Satan, Luzifer .
»Hier!« Amy reichte ihr ein Glas.
Josie nahm es geistesabwesend entgegen, während sie ein Buch zurücklegte. »Hier sieht’s fast aus wie bei uns daheim.«
Amy nippte an ihrer Coke und sah sie fragend an. »Wieso?«
»Ich hab dir ja schon erzählt – meine Großmutter schreibt auch, zurzeit ein Fantasybuch, das in Irland spielt. Ist doch witzig, wieder eine Parallele. Bei uns liegen auch überall Bücher über Elfen und Irland rum. Recherche, weißt du.«
Sie ließ sich in ein weiches Sofa mit moosgrünem Chenilleüberwurf fallen.
»Das kenn ich.« Amy setzte sich in ihren Lieblingssessel. »Edna hat sich schon immer für alles interessiert, das irgendwie mit – na ja, sie nennt das die Anderwelt – zu tun hat, Feen und Zwerge, Märchen, alte Mythen und so, vor allem aus Irland. Unsere Vorfahren waren Iren. Jedenfalls soweit mein Urgroßvater das zurückverfolgen konnte.« Sie deutete auf eines der Fotos auf dem Kaminsims. »Das ist er. Alan O’Leary. Es wurde im Zweiten Weltkrieg aufgenommen. Er hat sich sehr für unsere Familiengeschichte interessiert.«
Josie folgte ihrem Blick und versteinerte. Das alte, schon etwas vergilbte Schwarz-Weiß-Foto zeigte einen jungen gut aussehenden Mann in Uniform.
»Das Foto«, sagte sie mit bebenden Lippen. »Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Das gibt’s doch gar nicht!« Sie stand auf und nahm den verschnörkelten Silberrahmen mit dem Porträt in die Hand.
Amy beobachtete sie irritiert.
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