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Das Vermächtnis der Feen (German Edition)

Das Vermächtnis der Feen (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Feen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Endres
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»Was ist Wirklichkeit?« Er deutete mit einer schweifenden Handbewegung auf die unzählbaren Bände seiner Bibliothek. »Wir sind hier an einem ganz besonderen Ort. Diese Bücher sind seit Generationen von meinen Vorfahren zusammengetragen worden. Mein Großvater hat sie von seinem Vater geerbt und der von seinem und so weiter und so weiter. Ich habe sie wiederum von meinem Vater übernommen. Alles Bücher, die sich mit den großen Geschichten, Mythen und Märchen der Menschheit befassen, den Dichtungen der Barden und mit Zeugenberichten von Begegnungen mit der Anderwelt. Seit ich denken kann, hat mich diese magische Welt begleitet. Eine Welt, die – und davon bin ich überzeugt – ebenso wirklich ist, wie das, was wir gemeinhin Wirklichkeit nennen. Denn was ist denn wirklich?« Er legte eine Pause ein und beantwortete seine rhetorische Frage gleich selbst. »Wirklich ist, was wir fühlen und denken – und daraus entsteht, was wir wahrnehmen. Es gibt viele Wirklichkeiten. Doch diese …«, er machte eine Kopfbewegung zu den Büchern hin, »ist eine bedrohte Wirklichkeit. Bedroht durch Vergessen. Während meine Vorväter die Sammlung um immer neue Schriften erweitern konnten, gelang das bereits meinem Vater nur noch in sehr begrenztem Maß. Und wenn ihr euch umseht, findet ihr leider nur sehr wenige aktuelle Bände, die die großartigen alten Geschichten noch erzählen.«
    Josies Augen wanderten über die Regale.
    Es stimmte. Es gab nur wenige bunt bedruckte, moderne Bücher. Die meisten zeigten ein ehrwürdiges Alter, waren in Leder gebunden und liebevoll mit goldenen Einprägungen versehen.
    Und noch etwas fiel ihr auf. Auf nahezu jedem Regalbrett klafften zwischen den eng an eng stehenden Büchern vereinzelt Lücken.
    »Fehlen da nicht welche?«, erkundigte sie sich.
    Der Professor nickte verdrossen. »Allerdings. Seit geraumer Zeit zerbröseln manche Bücher buchstäblich zu Staub. Du ziehst einen Band heraus, und hast nur noch die Buchdeckel in der Hand, und auf dem Regal liegt ein Häufchen Dreck. Zum Auswachsen! Und ausgerechnet die besonders wertvollen Bücher – oft letzte, unersetzliche Exemplare. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wieso dieser Verfall neuerdings so schnell geht. Es geschehen überhaupt seltsame Dinge in letzter Zeit.«
    Moma stöhnte. »Seltsam ist wirklich harmlos ausgedrückt.« Sie strich Josie über die Wangen. »Du bist noch ganz blass. Polizei oder nicht, klären wir morgen. Ich bring dich jetzt ins Bett. Unser Ferienhaus ist nur ein paar Meter von hier entfernt. Traust du dir zu, rüberzugehen?«
    »Moment mal, Dorothy«, mischte sich der Professor ein. »Nachdem Edna und Amy ja unglücklicherweise nicht mitgekommen sind …« Er zupfte sich verlegen am Ohr. »Nun, ich denke … Ich denke, das Haus ist groß genug für uns drei. Wollt ihr nicht in Springwood Manor wohnen?«
    Moma sah ihn mit einem Blick an, in dem etwas lag, das Josie noch nie vorher bei ihr gesehen hatte. »Wirklich?«
    »Aber ja!« Der alte Herr lächelte. »Außerdem lass ich euch momentan nicht gern allein …«
    Moma zuckte zusammen. »Meinst du …?« Sie sprach nicht zu Ende, und Josie fühlte, dass sie eigentlich gar nicht so genau wissen wollte, was ihr Gastgeber tatsächlich meinte.
    O’Reardon schloss den schweren Band, der noch immer auf seinem Schoß lag, und wuchtete ihn auf den Tisch. »Wir wollen uns keine unnötigen Sorgen machen. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

 
    Das Zimmer, in dem Josie am nächsten Morgen erwachte, stand in größtem Kontrast zu der dunklen Bibliothek, in der sie gestern Abend die Augen aufgeschlagen hatte. Durch ein großes, halb offenes Fenster wehte der Duft von Sommerjasmin. Sonnenstrahlen blitzten durch die Vorhänge und spielten mit dem Streifenmuster der Tapete, die oberhalb einer weiß gestrichenen Holzverkleidung die Wand zierte. Alles an diesem Raum war hell, freundlich und beruhigend. Der Horror, den sie durchgemacht hatte, kam Josie wie ein Albtraum vor, aus dem sie soeben glücklich erwacht war. Doch hielt dieses Hochgefühl nicht lange an. Wie ein vergifteter Pfeil schoss der Gedanke an Amy in ihr Bewusstsein. Wo war Amy jetzt? Würden sie sich je wiedersehen? Ein kleines Schluchzen kroch durch ihre Kehle. Dann gab sie sich einen Stoß und setzte sich auf. Nein, das durfte sie keinen Augenblick denken! Sie würden sich wiedersehen! Punkt!
    Sie tastete unter dem Kopfkissen nach der Drachenfibel. Aber sie war nicht da.

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