Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
denn in meinen Koffer?«
Über Rosalindes Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln. »Nun, junge Herrin – es war drin. Doch kam’s Euch jetzt erst in den Sinn.«
Der Stoff knisterte, als Josie das Kleid über den Kopf zog. Obwohl es sich steif anfühlte, trug es sich unerwartet angenehm weich und wohlig und es duftete berückend nach Lavendel. Rosalinde reckte sich auf Zehenspitzen, um ihr beim Schließen der Schärpe behilflich zu sein. Josie drehte sich entzückt um die eigene Achse. Der duftige Rock schwang wie eine jubelnde Glocke. Wie lange hatte sie kein Kleid mehr getragen! – Warum eigentlich?
Rosalinde stand da, die Finger vor der Brust verschränkt, und begutachtete sie zufrieden. Josie sah sich nach einem Spiegel um. Auf den ersten Blick fand sie keinen, bis sie auf die Idee kam, den weiß gestrichenen Kleiderschrank neben dem Fenster zu öffnen. Alte Schränke hatten häufig Spiegel in den Innentüren. Und tatsächlich hatte sie damit den richtigen Riecher gehabt. Als sie jedoch ihr Spiegelbild erblickte, fuhr sie zusammen. Da stand ein rothaariges, ziemlich verstrubbeltes Mädchen in Unterwäsche. Von einem Kleid keine Spur. Und wo war Rosalinde geblieben? Erschrocken wirbelte sie herum. Aber die Zwergin stand hinter ihr. Josie sah verwirrt an sich herab. Das Kleid war da! Definitiv! Der Taft raschelte bei jeder ihrer Bewegungen. Nur im Spiegel war es nicht zu sehen. Schlagartig fiel ihr ein, dass Geister kein Spiegelbild hatten. Offenbar galt das auch für das Kleid, das der freundliche Hausgeist für sie hergezaubert hatte. Und wie war es mit dem Purpurband? Mit fliegenden Fingern zog Josie die Drachenfibel über den Kragen. Zu ihrem Erstaunen leuchtete ihr das hübsche Schmuckstück mitsamt Rosalindes Band im Spiegel entgegen. Sicher lag das an der Zauberfibel.
Josie seufzte. Es gab so vieles, was sie nicht verstand. Wenn der Spiegel das Kleid nicht abbildete, war es dann für andere überhaupt sichtbar? Sie erinnerte sich an das Märchen von Des Kaisers neue Kleider , in dem der Kaiser, im festen Glauben, ein Prunkgewand zu tragen, splitternackt durch die Straßen spazierte. Bei dem Gedanken, dass ihr womöglich etwas Ähnliches passieren könnte, wurde sie rot.
»Tut mir leid«, sagte sie, während sie sich schon nach hinten verrenkte, um die Haken der Schärpe zu öffnen. »Aber ich zieh wohl besser doch meine Hose an.«
Rosalinde schlug bekümmert die Augen nieder. »Wohl wahr, das Kleid ist nicht von hier. Obgleich Ihr darin eine Zier, zieht besser dieses Ding da an, weil Euereins es sehen kann.« Mit spitzen Fingern reichte sie Josie die unscheinbare Cargohose.
Josie war gerade in das erste Hosenbein geschlüpft, als es klopfte. »Josie, bist du schon wach?«
Rosalinde deutete mit dem rechten Zeigefinger auf sich und legte den linken beschwörend auf die Lippen. Josie hatte verstanden. »Ich komm gleich«, rief sie Richtung Tür, während sie die Hose vollends überstreifte.
Aber da stand ihre Großmutter schon im Zimmer. »Wie geht es dir heute Morgen, Liebling?«
Josie war überzeugt, dass Moma Rosalinde, die noch immer neben ihr stand, sehen würde. Aber zu ihrer Verwunderung nahm Moma die pummlige Zwergin, die ihrerseits Josies Großmutter neugierig musterte, ganz offensichtlich nicht wahr.
Ihre Augen schweiften durch den Raum. »Ein schönes, helles Zimmer. Aaron sagte, es habe schon früher als Mädchenzimmer gedient. Springwood Manor ist, seit es erbaut wurde, im Besitz der O’Reardons.« Sie ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. »Sieh nur diesen herrlichen Garten! Ein kleines Paradies. Und wie das duftet!« Sie schnupperte. »Lavendel! Das ist eben die Grüne Insel! Es regnet zwar häufig, aber Pflanzen lieben so ein Klima.«
Ihr Ton klang vordergründig heiter, dennoch schwangen Nervosität und Besorgnis mit. Wenngleich sie wohlweislich nicht darüber sprachen, fühlten beide deutlich: Es lag etwas in der Luft, etwas Unfassbares, Bedrohliches. Moma ging zur Tür. »Kommst du zum Frühstück runter?«
»Gleich.« Josie nahm ein frisches T-Shirt vom Stuhl und zog es über. »Ich muss nur noch ins Bad.«
Als ihre Großmutter das Zimmer verlassen hatte, drehte sich Josie zu Rosalinde um. »Sie kann dich nicht sehen? Wieso?«
Rosalinde stopfte geschäftig eine Locke unter die Haube. »Das Erbe ist ihr angeboren, doch wurde sie nicht auserkoren, das Abenteuer zu besteh’n. – Es würde ihr wohl kaum gefallen – doch trägt sie großen Teil an allem,
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