Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
Josie überlegte. Sie hatte vor dem Schlafengehen noch geduscht, dann hatte sie die Fibel von der Jeans abgenommen und unters Kissen gelegt. Verdammt! Sie hob das Kopfkissen an. Nichts! Vielleicht war die Fibel ja runtergefallen? Sie beugte sich gerade aus dem Bett, als sie fühlte, dass etwas um ihren Hals baumelte. Erstaunt erkannte sie, dass es die Drachenfibel war, sorgsam an einem purpurfarbenen Satinband befestigt. Sicher hatte Moma das gestern gemacht, als sie schon eingeschlafen war. Eine gute Idee jedenfalls. Auf diese Weise hatte sie die Fibel immer nahe bei sich.
Ein leises Schnarren ließ sie den Kopf heben. Dann sah sie, wie sich im Paneel plötzlich eine niedrige, geschickt verborgene Tür öffnete. Sie hielt den Atem an. Ging dieser Wahnsinn gleich heute früh weiter? Fassungslos beobachtete sie, wie eine kleine Frau aus der Tür trat. Eine zwergenhafte alte Frau mit pausbäckigem Gesicht, in dem zwei liebenswürdige Grübchen wohnten. Unter einer weißen Spitzenhaube lugten weiße Haare hervor, von denen vereinzelte Kringel vorwitzig in die Stirn fielen. Sie trug einen bodenlangen hellbraunen Rock, unter dem die Spitzenbordüre eines üppigen Unterrocks hervorblitzte, darüber eine blütenweiße Schürze. Obenherum steckte die rundliche Zwergin in einem dunkelbraunen, geschnürten Mieder über einer hellen Leinenbluse. Ein starker blumiger Geruch ging von ihr aus. War das Lavendel? Josie starrte sie an. Träumte sie etwa noch?
»Junge Herrin, guten Morgen! – Mög’ es ein Tag sein ohne Sorgen!« Mit einem Lächeln, so warm und freundlich, dass Josie trotz ihrer Verblüffung unwillkürlich zurücklächelte, fragte die kleine Frau, die jetzt mitten im Zimmer stand: »Habt Ihr denn auch wohl geruht?«
Josie nickte stumm.
»Das ist schön, das ist gut!« Die Zwergin strahlte. Sie raffte ihren Rock, knickste und verbeugte sich. »Euch stets zu Diensten: Rosalinde. Ich zähl von jeher zum Gesinde in diesem ehrenwerten Haus. Kenn jeden Winkel, jede Maus.« Sie hielt sich das fleischige Händchen vor den Mund und blickte Josie erschrocken an. »Nicht dass es hier viel Mäuse gäbe – man sagt halt so – ist nur Gerede.«
Die Worte sprangen über ihre Lippen, wie ein Bächlein über Steine springt, heiter und ohne Pause. Josie setzte eben zu einer Frage an, aber die kleine Frau plapperte schon weiter. »Ich hoffe, es ist Euch genehm – ich würde gern zur Hand Euch geh’n. Ein wenig räumen, Betten machen, all die kleinen, leid’gen Sachen …« Rosalinde deutete auf die Drachenfibel. »Auch hab ich mir erlaubt, zu binden die Fibel an ein Purpurband. Mitnichten darf sie je verschwinden, sie ist des Erbes Unterpfand.« Dunkelheit flog über ihr sonniges Gesicht wie ein Wolkenschatten über eine Sommerwiese. »Verliert Ihr sie … Nicht auszudenken! – Und Unken ist von übel nur! – Doch evoziert allein die Fibel Euere magische Natur.«
Obwohl sie genau wusste, dass sie da war, tastete Josie sogleich besorgt nach der Fibel.
Über Rosalindes herzförmigen Mund huschte ein entschuldigendes Lächeln. »Verzeiht, ich wollt Euch nicht belasten. Lasst sehn, was in dem Räderkasten!«
Damit nahm sie Josies Rollenkoffer in Augenschein, der noch von gestern Abend offen am Boden lag. Interessiert nahm sie ein Stück nach dem anderen heraus und legte es sorgfältig auf einen Stuhl. Schließlich hielt sie eine hellgraue Cargohose in ihren rundlichen Händchen.
»Was sind das bloß für garst’ge Dinger? Für eine Dame …« Sie spitzte das Mündchen. »Nie und nimmer!«
Josie war bisher noch nicht zu Wort gekommen. Das Erscheinen der kleinen Geisterfrau hatte ihr die Sprache verschlagen. Doch jetzt meldete sie sich zaghaft zu Wort. »Das trägt man heute, es ist bequem.«
»Tsss!« Rosalinde spitzte den Mund. »Kommod mag dieses Beinkleid sein, doch die Bequemlichkeit allein bestimmt noch lang nicht, was sich schickt. Die Welt ist heut’ gar zu verrückt!«
Unverständlich vor sich hin brummelnd legte sie die Hose zu den anderen Sachen und entnahm dem scheinbar leeren Koffer, zu Josies größter Überraschung, ein langes Puffärmelkleid aus zartlila Taft mit aufgestickten Lavendelblüten und einer purpurroten Seidenschärpe. Mit einem fröhlichen Nicken winkte sie Josie zu sich. »Wohlan, dies hier erscheint mir zwecklich für einen heit’ren Sommermorgen. Ein schönes Kleid und Sonnenstrahlen vertreiben alle düstern Sorgen.«
Josie sprang aus dem Bett. »Das ist ja süß! Wie kommt das
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