Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
»Andererseits …« Sie stellte das Glas wieder ab. »Andererseits – warum überlassen wir den Abwasch nicht einfach den Hausgeistern.« Sie sah ihren Gastgeber herausfordernd an. »Die gibt es doch in Springwood Manor! Stimmt’s, Aaron?«
»Die gibt es, Dorothy! Die gibt es!«, sagte der Professor und es lag nicht das kleinste Augenzwinkern in seinen Worten.
Josie gähnte herzhaft, als sie an diesem Abend in ihr Zimmer trat. Was für ein Tag lag hinter ihr! Einen Augenblick später war sie wieder hellwach. Irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. »Hallo?«
Raschelnd blähte sich die Gardine vor dem halb geöffneten Fenster. Josie atmete auf. Gott sei Dank – nur der Wind! Allmählich litt sie schon unter Verfolgungswahn. Sie schob das Fenster zu und zog das Nachthemd an, das jemand für sie über den Stuhl gelegt hatte. Nachdem sie in das einladend aufgeschlagene Bett geschlüpft war, schnupperte sie. Mhm, das duftete! Lavendel? Sie hob das Kopfkissen und entdeckte darunter ein lila blühendes Kränzchen. Ob Rosalinde hier gewesen war? Oder hatte Maude alles so nett für sie hergerichtet?
Josies Blick wanderte zur Holztäfelung, aber die kleine Tür war in der Struktur des Paneels heute nicht auszumachen. Von Rosalinde keine Spur. Sie griff nach dem grünen Bändchen, das sie heute Morgen aus der Bibliothek mitgenommen hatte, und lehnte sich zurück. Zwerge, Gnome, Hausgeister – Eine kleine Enzyklopädie von Thomas Williams Mahony, 1795. Sie öffnete den abgestoßenen Leinwanddeckel. Hatte sie den Titel noch ohne Probleme lesen können, musste sie schon nach wenigen Zeilen feststellen, dass sich ihr das, in antiquierter Schrift gedruckte, altertümliche Englisch kaum erschloss. Sie blätterte enttäuscht durch die Seiten und verweilte bei den Abbildungen. Etwa in der Mitte des Buches blieb ihr Blick an einer Zeichnung hängen. »Bean Tighe«, buchstabierte sie leise. Fast genauso sah Rosalinde aus! Josie schob die Unterlippe vor. Wie schade, dass sie nur die Hälfte von dem mitbekam, was da geschrieben stand! Sie hätte wirklich zu gern etwas über die Zwergin erfahren. Während sie sich abmühte, den Text zu entziffern, spielte ihre Hand beiläufig mit der Drachenfibel, die an dem Purpurband um ihren Hals hing. Urplötzlich, so als hätte jemand in ihrem Gehirn das Licht angeknipst, erfasste sie die fremden Wörter und Wendungen wie selbstverständlich. Es dauerte eine Weile, bis sie dahinterkam, dass diese Erhellung mit der Drachenfibel zu tun hatte. Als ihr der Zusammenhang endlich aufging, dachte sie, dass es doch wirklich ein Jammer war, wie wenig sie von den Regeln der Magie verstand, die so unerwartet in ihr Leben geplatzt war. Musste sie denn auf alles selbst kommen? Dennoch erleichtert, das Büchlein nun lesen zu können, vertiefte sie sich in die Zeilen.
Bean Tighe: ein weiblicher irischer Hausgeist mit dem Aussehen einer älteren Frau. Diese Zwerginnen schätzen einfache bäuerliche Kleidung. Zumeist sind sie etwas mollig und zeigen ein freundliches, fast kindliches Gesicht. Eine Bean Tighe macht sich gern nützlich, so erledigt sie zum Beispiel Arbeiten, die im Haushalt liegen geblieben sind. Auch gilt sie als gute Kinderfrau, die die Kleinen stets im Auge behält. Mit ein wenig Sahne und ein paar Erdbeeren entlohnt, bleibt eine Bean Tighe dem Menschen, den sie ausgewählt, ein treuer Freund.
Josie legte das Buch auf die Decke. Kein Zweifel, Rosalinde war eine Bean Tighe! Sicher hatte der gutmütige Hausgeist ihr Bett gemacht, nachdem sie es heute Morgen völlig zerknüllt zurückgelassen hatte. Sahne und Erdbeeren, dachte sie dann. Es war sicher nicht leicht, um diese Jahreszeit Erdbeeren aufzutreiben. Aber vielleicht gab es noch Walderdbeeren, die trugen doch den ganzen Sommer über. Ein kalter Schauder durchrieselte sie. Nach den Ereignissen des heutigen Tages ging ihre Lust auf einen Waldspaziergang gegen null. Sie ließ den Kopf ins Kissen fallen. Sollte sie Arthur fragen, ob er sie begleiten würde? Und Wolf? Wolf kam bestimmt mit!
Sie las noch ein paar Seiten, legte das Büchlein dann auf den Nachttisch zurück und knipste das Licht aus. Unglaublich, was es alles für Wesen gab! Unglaublich war das einzig treffende Wort. Und trotzdem gab es sie. Einige von ihnen hatte sie heute schon kennengelernt. Die Anderwelt schien eine Parallelwelt zu sein. Eine Welt neben – oder sollte man besser sagen zwischen – der ihr vertrauten Realität. Wie hatte Elvinia die Menschenwelt
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