Das Vermächtnis der Feuerelfen
Sie schwebte am Rande ihrer Gedanken, zum Greifen nahe und gleichzeitig unerreichbar. Sie wusste, dass sich etwas in ihr verändert hatte, seit sie den Wald betreten hatten. Da war etwas in ihr, das sich regte und an die Oberfläche drängte. Etwas, das lange in ihrem Bewusstsein verborgen gewesen war, das sich fremd und unnatürlich anfühlte und doch ebenso zu ihr gehörte wie die Gabe, die Wahrheit zu erspüren oder den Schnee zu bannen. Noch zeigte es sich nicht. Noch hatte es keinen Namen. Aber sie konnte seine Gegenwart bereits ahnen. Es war das Flüstern in der Nacht, als sie glaubte, die Stimmen der Bäume zu hören, das wütende Rauschen des Flusses und das leise Wehklagen, mit dem der Wind durch die kahlen Äste strich. Es war das alles und noch viel mehr. Ein Gefühl, das erkannt werden wollte, sich ihr aber immer gerade dann entzog, wenn sie es zu verstehen versuchte.
Weil ich nicht bereit bin.
Caiwen seufzte. Je länger sie grübelte, desto mutloser wurde sie. Ich werde scheitern, wisperte es in ihr. Ich bin nicht das, was die anderen in mir sehen. Ich bin zu schwach. Ich werde versagen.
»Weiter!« Der harte Ruck, mit dem sich ihr Pferd wieder in Bewegung setzte, riss Caiwen aus ihren Gedanken. Die scharfe Gangart, die die Männer anschlugen, ließ den Schmerz vom langen Sitzen auf dem Pferderücken augenblicklich wieder aufflammen, holte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück und verbannte alle ungelösten Fragen und nagenden Ängste aus ihrem Kopf.
Am Himmel im Osten zog die Nacht herauf. Je weiter die Dämmerung voranschritt, desto unruhiger wurden die Krieger. Immer wieder schauten sie sich um und wechselten nur noch selten ein paar leise Worte miteinander. Schließlich zügelten sie ihre Pferde und umwickelten die Hufe mit dicken Tüchern, die sie aus den Packtaschen nahmen.
Kein Hufschlag war zu hören, als der kleine Trupp kurz darauf in die Außenbezirke der Hafenstadt einritt. Die Dämmerung wich langsam der Nacht, die Schatten zwischen den Gebäuden vertieften sich. Trotzdem war es immer noch hell genug, dass Caiwen sich einen ersten Eindruck vom Leben in Arvid verschaffen konnte.
Was sie sah, erschreckte sie. Die Hütten am Rande der Stadt waren genauso ärmlich anzusehen und nicht minder notdürftig zusammengezimmert wie die Häuser auf dem Riff, die immer wieder mit dem ausgebessert wurden, was der Ozean an den Strand spülte. Aber anders als in ihrer Heimat waren die meisten Behausungen verfallen und unbewohnt. Bei den wenigen, aus deren Rauchfängen noch Qualm aufstieg, waren die Fenster mit dicken Brettern vernagelt und die Türen fest verriegelt. Es war ein bedrückendes Bild.
Caiwen war entsetzt. Sie hatte damit gerechnet, in eine laute
und lebhafte Welt einzutauchen. Was sie vorfand, war alles andere als das. Die Straßen waren menschenleer und überall herrschte Totenstille. Dazu kam das Gefühl einer drohenden Gefahr, das sich über alles gelegt hatte und auch die Krieger erfasst zu haben schien. Caiwen spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten, aber es war nicht die Kälte der Nacht, die sie frösteln ließ. Es war das Unsichtbare, Unfassbare - das Grauen, das hier in jedem Schatten zu lauern schien. Es war, als genüge allein ein zu laut gesprochenes Wort, um schreckliches Unheil herbeizurufen.
Die Krieger schienen es zu wissen und zu fürchten. Sie trieben ihre Pferde an und warfen immer wieder wachsame Blicke in alle Richtungen.
Caiwen erinnerte sich daran, was Finearfin ihr über die Wesen der Anderwelt erzählt hatte, und obwohl sie den Angriff der Nachtmahre im Wald miterlebt hatte, verstand sie erst jetzt, was die ständige Bedrohung und Todesfurcht für die Menschen in Tamoyen bedeutete.
Hier gab es keine Feste am nächtlichen Lagerfeuer, keine Verliebten, die an einem verborgenen Ort die Sterne am Himmel zählten, und keine Kinder, die im Mondschein spielten. In der Nacht gab es für die gemarterten Seelen der Menschen von Arvid nur eine Hoffnung: den Sonnenaufgang.
Weiter ritten sie, dem Herzen der Stadt entgegen. Die Häuser wurden größer und schöner. In der Luft hing der Geruch von Feuerholz. An den bebilderten Schildern über den Türen war unschwer zu erkennen, dass es Geschäfte und Schenken gab, dennoch hatte Caiwen auch hier den Eindruck, durch eine Geisterstadt zu reiten.
Arvid war eine tote Stadt. Ein starres Monstrum aus Stein und Holz mit einer Seele aus Angst, die sich wie ein Ring aus Eisen um Caiwens
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