Das Vermächtnis der Feuerelfen
sie sich an und verließ die Hütte.
Die Nacht war wolkenverhangen und bitterkalt, aber es war nicht wirklich dunkel. Ein strammer Wind ließ keinen Nebel aufkommen. Caiwen fröstelte und schloss ihren Umhang fest vor der Brust. Dann nahm sie die Öllampe zur Hand, die neben dem
Eingang hing, und lief um das Haus herum zu der Senke, in der sie das Grab entdeckt hatte.
Obwohl sie nicht viel sehen konnte, fand sie die Stelle, an der das Brett lag, schnell wieder. Diesmal jedoch hob sie es nicht auf, sondern befreite es nur vorsichtig von dem Sand, den sie am Morgen darübergestreut hatte, um zu vertuschen, dass sie hier gegraben hatte. Dann kniete sie sich in den feuchten Sand, legte die Handflächen auf das Brett, schloss die Augen und konzentrierte sich.
Wie schon am Morgen streifte sie der Atem des Todes, kaum dass sie das Brett berührte. Anders als beim ersten Mal hieß sie das Gefühl willkommen, und was zuvor nur sanft an ihrem Bewusstsein gezupft hatte, wurde Gewissheit. Mochte Armide an ein Missverständnis glauben, sie wusste es besser - hier lag ein Mensch begraben.
Caiwen atmete schwer und versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen. Das Grab war ein Tor, das aufgestoßen werden konnte. Ein Tor, hinter dem sie vielleicht die Antwort finden konnte, nach der es sie so sehr verlangte. Caiwen hielt die Augen geschlossen und verband ihren Geist mit dem Sog, der sie wie ein unsichtbarer Strudel in die Erde und ins Reich der Toten führen würde. Dabei löste sie, ohne es zu bemerken, nach und nach die Fäden, die sie mit der Welt der Lebenden verbanden, und glitt immer tiefer in die bodenlose Schwärze, die sich vor ihr auftat. Zunächst war alles ruhig. Dann hörte sie Stimmen. Raunend und wispernd strichen sie an ihr vorbei, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort verstehen konnte.
Tiefer und tiefer sank sie, und die Stimmen begannen, Gestalt anzunehmen. Sie begegneten ihr als hauchzarte Nebelgespinste, die sich tanzend in dem Dunkel bewegten. Nach und nach nahmen sie Formen an. Menschliche Formen, deren Gesichter nicht zu erkennen waren. Sie schienen Caiwens Nähe zu spüren. Der Hauch des Lebens zog sie an wie die Motten das Licht. Mehr
und mehr drängten sich um Caiwen und vereinten ihr Flüstern zu einem geisterhaften Chorgesang, der so traurig klang, dass er Caiwen tief berührte. Sie formte in Gedanken eine Frage: »Wo ist sie? Wo ist Caiwen?«
Niemand antwortete ihr. Nur das Klagen und Seufzen wurde lauter, als die Seelen der Toten erkannten, dass nicht sie es waren, die gesucht wurden. Die Gespinste glitten auseinander und gaben den Blick auf ein kleines Bündel frei. Es war ein Kind, kaum wenige Wochen alt.
Caiwen schwebte näher heran. Sie spürte, dass sie fast am Ziel war. Aber noch fehlte ihr der Beweis, den sie brauchte. Lautlos stellte sie die Frage, die ihr mehr als alles andere auf der Seele brannte: »Wer bist du?«
Sie erhielt keine Antwort, stattdessen schoben sich die Gespinste wieder vor das Kind, bis Caiwen es nicht mehr sehen konnte.
Komm, wisperte es von überall her. Komm und begleite uns, wir werden dich zu ihr führen. Sie streckten die Nebelhände aus und winkten Caiwen, ihnen zu folgen. Sie wehrte sich nicht.
»Na, na. Du willst doch noch nicht sterben - oder?« Die Stimme einer Frau riss Caiwen mit Macht zurück und schleuderte sie aus der Schwärze des Totenreichs in die frostige Nacht der Riffinseln zurück. Die Wucht der Bewegung warf sie auf die kalte Erde, wo sie benommen liegen blieb.
Für endlose Augenblicke war das hämmernde Pochen des Blutes in ihren Ohren das einzige Geräusch, das sie hörte. Sehen konnte sie nichts, außer einem blutigen Nebel, in dem kleine Sterne zu tanzen schienen. Das Erste, was sie fühlte, war der Wind. Er frischte auf, fuhr ihr wie eine eisige Hand durch die Haare und löschte die Öllampe. Sein Rauschen mischte sich mit dem fernen Donnern der Brandung und den klagenden Lauten, mit denen er durch die Spalten der Klippe strich.
Für den Bruchteil eines Wimpernschlags erfasste Caiwen ein
Schwindelgefühl, dann hörte sie ein leises Lachen und wieder die weibliche Stimme, die sagte: »Für dich ist die Zeit noch nicht gekommen.«
Caiwen fühlte sich elend. Erschöpft fuhr sie sich mit den Händen übers Gesicht, setzte sich auf und blickte sich blinzelnd um. Am Rand der Senke entdeckte sie die Gestalt einer Frau, die nur aus wogenden Schatten zu bestehen schien. Im ersten Augenblick glaubte Caiwen, ihre Mutter sei ihr gefolgt, erkannte
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