Das Vermächtnis der Feuerelfen
vom Riff und nicht aus Tamoyen.«
Caiwen starrte Durin an, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, während sich in ihr ein heftiger Widerstand regte. Sie hatte ihr ganzes Leben auf dem Riff verbracht. Ihre Mutter und ihr Vater lebten hier. Wie konnte er da behaupten, dass es nicht ihre Heimat war? Und doch wusste sie tief in sich, dass er recht hatte. »Du lügst!«, rief sie so heftig aus, als könnte sie mit diesem Satz aus der Wahrheit eine Lüge machen. Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Durins Worte zerstörten alles, woran sie bisher geglaubt hatte. Ihre Zukunft, ihre Vergangenheit, ihr ganzes Sein waren von einem Moment zum nächsten in tausend Scherben zersprungen, und zurück blieb nur eine Frage: Wer bin ich?
Ohne dass sie es wollte, schlich sich das Bild ihrer Eltern in ihre Gedanken, wie sie an dem Grab hinter der Hütte standen und um ein Kind trauerten, das Caiwen bisher für ihre Schwester gehalten hatte.
Du bist die einzige Tochter von Lenval und Verrina. Caiwen … die einzige Tochter... Du bist anders... Du stammst nicht vom Riff.
Worte wirbelten hinter ihrer Stirn umher, ungeordnet und wild, aufgepeitscht von einem Sturm, der Caiwen bis auf den Grund ihrer Seele erschütterte. Ein Teil von ihr wünschte sich weit weg, irgendwohin, wo es diese schreckliche Wahrheit nicht gab und sie ihr Leben so wie bisher weiterleben konnte. Der andere, stärkere Teil aber sehnte sich nach Antworten. Er war es, der sie davon abhielt, einfach hinauszustürzen und Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen. Er war es, der sie wie betäubt in den Sand jenseits des Feuers sinken ließ und sie zwang auszusprechen, was ihr Leben auf den Kopf stellen und aus den Angeln heben würde: »Ja«, sagte sie matt. »Ja, ich will die Geschichte hören. Erzähl sie mir. Erzähl mir alles.«
ABSCHIED
V on Sorgen,Zweifeln undÄngsten geplagt,machte sich Heylon im Licht der Nachmittagssonne wieder auf den Weg zum Strand, um nach Caiwen und dem Schiffbrüchigen zu sehen.
Die Riffbewohner waren immer noch auf dem Thingplatz, wo die angespülte Schiffsladung gerecht aufgeteilt wurde. Niemand hatte bemerkt, dass er die brennenden Steine viel später als gewöhnlich beim Feuermeister abgeliefert hatte.
Dass sich der Thing so lange hinzog, konnte nur bedeuten, dass der Sturm der vergangenen Nacht ihnen reiche Beute beschert hatte. Die seltenen Things gehörten für die Leute vom Riff zu den wenigen wirklich glücklichen Momenten ihres Daseins. Und so ließen sie es sich nicht nehmen, Mar-Undrum bei einer abendlichen Feier zu danken und ihm zu Ehren eines der Rumfässer zu öffnen, die er ihnen in seiner Güte hin und wieder zukommen ließ.
Heylon erinnerte sich noch gut daran, wie sehr auch er diese Feste immer genossen hatte. Ausgelassen hatte er mit den anderen Kindern im Feuerschein gespielt und sich den Bauch mit all den köstlichen Dingen vollgeschlagen, die das Meer ihnen zugetragen hatte. Damals hatte er nicht verstehen können, warum Caiwen diese Freude nicht teilte und den Festen meistens fernblieb.
Aber damals hatte er auch noch nicht gewusst, dass Blut an den Schätzen klebte.
Wie von selbst kehrten die Erinnerungen an den Morgen zurück, als sein Vater ihn gezwungen hatte, die Männer zum Strand zu begleiten. Furchtbare Erinnerungen, die er seit vielen Schwarzmonden zu verdrängen versuchte. Da war eine junge Frau, kaum älter als Caiwen, die ihm in ihren nassen Kleidern freudestrahlend entgegeneilte und von Emeric brutal niedergeschlagen wurde; ein Junge, der sich mit letzter Kraft an den Strand zog, nur um von Borel so lange unter Wasser gedrückt zu werden, bis seine verzweifelte Gegenwehr erstarb, und drei erschöpfte Männer, die mit bloßen Fäusten und Schiffsplanken um ihr Leben kämpften, aber von Sicard und den anderen mit Äxten niedergestreckt wurden.
Heylon schluckte. Niemals würde er vergessen, was an jenem Morgen am Strand geschehen war. Niemals würde er die Schreie der Sterbenden vergessen, die ihn selbst jetzt noch bis in seine Träume verfolgten. Und niemals wieder würde er das Ende eines so grausamen Gemetzels mit einem Fest feiern. An diesem Morgen am Strand hatte er verstanden, warum Caiwen die Things so sehr hasste.
Emeric hatte ihn mitgenommen, weil er aus ihm endlich einen Mann machen wollte. Doch er hatte genau das Gegenteil erreicht. Heylon hatte seinen Vater nie geliebt, aber immer großen Respekt vor ihm gehabt. Seit er aber mit eigenen Augen gesehen hatte,
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