Das Vermächtnis der Feuerelfen
Angesichts der vielen Menschen, die an Bord ihre Arbeit verrichteten, war sie schnell zu dem Schluss gekommen, dass sie das Schiff nur im Schutz der Dunkelheit betreten
konnte, wenn die Handwerker nach Hause gegangen waren und die Mannschaft sich unter Deck zurückgezogen hatte. Wenn sie schnell genug war, mochte es ihr gelingen, das Schiff zu erreichen, ehe die ersten Anderweltkreaturen durch Arvids Straßen streiften. Wenn nicht, würde sie sich den Weg dorthin erkämpfen müssen.
Als die Menschen sich aus dem Hafen zurückzogen, hatte sie in einer schmalen Gasse abgewartet. Wohl schon zum zehnten Mal spähte sie um die Hausecke - und diesmal fand sie den Kai verlassen vor. Die Feuerträger hatten die Pechfackeln entzündet, das Abendrot war erloschen und auch auf den Schiffen war kein Mensch mehr zu sehen. Aber noch zögerte sie.
Um ganz sicherzugehen, dass sich niemand mehr in der Nähe aufhielt, schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf jene Sinne, die allein den Angehörigen ihres Volkes gegeben waren. Sinne, die es ihr ermöglichten, auch die Menschen aufzuspüren, die sich vor ihr verbargen. Doch sie konnte nirgends Anzeichen von Leben erkennen. Sie war allein.
Das Gefühl war ihr nicht unbekannt, dennoch war es jedes Mal aufs Neue eigentümlich und irgendwie erschreckend, die Einsamkeit so hautnah zu erleben. Es war, als wäre alles Leben außerhalb der Häuser erloschen. Keine Ratte raschelte in den Abfallhaufen, keine Katzen stritten sich fauchend um die nächtlichen Reviere. Sogar der Wind hielt den Atem an. Jenseits der dicken Mauern der Tavernen und Schenken herrschte eine tiefe und alles durchdringende Stille …
... die jäh von einem schrillen und hasserfüllten Heulen zerrissen wurde, das ganz in der Nähe über den Häusern aufstieg. Dämonen!
Finearfin erstarrte. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen wirkte angespannt und hart. Auf die Begegnung mit Nachtmahren hatte sie sich bei diesem Unterfangen innerlich vorbereitet. Dämonen aber hatte sie im Hafen bisher noch nicht
entdecken können und insgeheim gehofft, dass ihr ein Zusammentreffen mit den wohl gefährlichsten Geschöpfen der Anderwelt erspart blieb - ein Irrtum, wie sich nun herausstellte.
Finearfin nahm einen tiefen Atemzug und ließ die Luft langsam aus den Lungen entweichen, während sie die Entfernung zu ihrem Ziel abschätzte. Kaum fünfzig Schritte trennten sie von der Annaha . Fünfzig Schritte über einen offenen Platz, der ihr keinen Schutz vor Entdeckung bot. Hinzu kam, dass die Besatzung des Viermasters die Planke an Deck gezogen hatte, über die Arbeiter und Seeleute das Schiff erreichten. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als eines der dicken Taue zu benutzen, um an Bord zu gelangen.
Finearfin seufzte. Hätte sie die Wahl gehabt, hätte sie den Schutz einer Gaststätte diesem Abenteuer vorgezogen. Aber sie hatte keine. Schon spürte sie die Nähe des Dämons mit jeder Faser ihres Körpers. Er hatte ihre Anwesenheit bemerkt und suchte nach ihr.
Ich muss hier weg. Schnell! Alle ihre Instinkte drängten sie zur Flucht, aber sie wusste, dass sie nur einen Versuch haben würde. Wenn der Dämon am Kai war und sie ihr Versteck jetzt verließ, würde sie ihm direkt in die Arme laufen. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste warten, bis der Dämon seinen Weg gewählt hatte.
Finearfin hielt den Atem an und lauschte. Die Stille war nun so vollkommen, dass ihr selbst das Geräusch ihres eigenen Herzschlags verräterisch laut in den Ohren klang.
Flieh, kreischte die Stimme der Vernunft in ihr. Flieh endlich! Aber noch gab sie ihren Instinkten nicht nach. Noch war es zu früh, um …
Ein schwaches, verhaltenes Rascheln, das an totes Laub erinnerte und aus den finsteren Tiefen der Gasse an ihre Ohren drang, machte ihr die Entscheidung leicht. Der Dämon wusste jetzt, wo sie war, und wollte sich von hinten anschleichen. Der
Weg zum Schiff war frei. Finearfin zögerte nicht länger. Mit weit ausgreifenden Schritten stürmte sie aus der Gasse und hetzte auf das Schiff zu, während in der Düsternis hinter ihr ein wütender Schrei ertönte …
Das allgegenwärtige Schwarz der Schatten färbte sich rot, als der Dämon seine Tarnung aufgab und die Verfolgung aufnahm. Wie ein Feuerball fegte er aus der Gasse auf den Kai hinaus. Ein großes, kräftiges Geschöpf von geduckter, menschenähnlicher Statur, dessen rote Flammenhaut sich eng über den muskulösen Körper spannte. An überlangen Armen und Beinen saßen
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