Das Vermaechtnis der Hexen
durch und steckte den Brief in einen Umschlag. War er zu Hause? Alle sagten, er sei zu einem seiner Verwandten gereist. Ob er kommen würde? Wenn ja, könnte ich es ertragen, ihn zu sehen? Was, wenn er sich trotzdem von mir fernhalten würde? Ich wollte nicht darüber nachdenken.
Mir stiegen wieder Tränen in die Augen und mein Magen verkrampfte sich. Ich versuchte aufzuhören und ging langsam wieder in das Haus. Ich klopfte zögernd an die Arbeitszimmertür und vernahm ein »Herein«.
Hier steckten sie. Alle saßen sie auf der Couch und sahen mich an. Meine Eltern, meine Brüder, Emma und Elli und ihre Mütter. Ich versuchte mich zu fassen und räusperte mich. »Ich wollte euch die Einladungen geben. Könntet ihr die bitte verteilen?«
»Ja, natürlich, mein Schatz.«
Ich legte die Einladungen auf den Tisch. Ohne jemanden anzusehen, drehte ich mich um und wollte das Zimmer wieder verlassen, um allein zu sein, als meine Mom fragte: »Wo willst du denn hin?« Ohne mich umzudrehen, antwortete ich: »Ich gehe etwas spazieren. Vielleicht nehme ich Lacsine mit oder einen der Hunde.«
»Okay, aber sei bitte zum Abendbrot wieder zurück.« Zum Abendbrot, nicht zum Mittag. Ist mal was ganz Neues.
»Keine Sorge. Bin bald wieder da.« Ich schloss schnell die Tür hinter mir und ging rasch den Weg entlang Richtung Wald. Ich ging ohne bestimmtes Ziel. Nur weg von zu Hause. Ablenkung gab es nicht, also wollte ich wenigstens in Ruhe traurig sein.
Jas. Ich sah sein wunderschönes Gesicht vor mir. Sein Haar, seine Augen und sein spöttisches Lächeln. Abrupt hielt ich inne. Was war das? Ich hörte ein Rascheln. Ein Zweig knackte ganz in meiner Nähe. Mein Herz raste und ich bekam Panik. Was war dort? Das Geräusch kam näher. Ich schrie auf, als eine Gestalt aus dem Wald trat.
Es war ein Mann, obwohl er eigentlich kein Mensch war. Ich erkannte ihn sofort, würde ihn überall erkennen, egal, wo.
Nach neun langen Monaten sah ich ihn endlich wieder. Seine Augen waren golden, mit einem Schimmer von Grün und Schwarz. Bronzefarbenes Haar. Ein wunderschönes Gesicht. Nein, das kann nicht sein. Nicht hier. Nicht jetzt.
Die Gestalt kam näher und lächelte mich an.
»Dann habe ich mich doch nicht verhört.«
Mein Herz schlug schneller.
»Ich habe mich schon lange gefragt, wann ich dich wiedersehe.«
Es tat gut, diese Stimme zu hören. Sie legte sich wie Balsam um mein wundes Herz. Als ich nichts erwiderte, sagte er: »Du hast etwas für mich.« Er zeigte auf meine Hand. Ich blickte hinab. Eine Einladung. Seine Einladung, der Brief an ihn. Ich hatte sie nicht zu den anderen gelegt. Ich wollte ...
keine Ahnung, was ich damit wollte.
Er kam langsam näher. Ein paar Schritte vor mir blieb er stehen. »Hat man dir nicht gesagt, dass es besser ist, nicht allein in den Wald zu gehen?« Er sah mich lange an.
»Ich wollte bloß einen Spaziergang machen und was geht es dich an?« Es sollte scharf klingen, aber meine Stimme brach. Er blickte mich lange schweigend an und verzog dann das Gesicht.
»Es wäre dir doch egal, wenn mich ein wildes Tier anfallen würde. Oder wenn mir sonst irgendetwas passiert.«
Er sagte nichts, sah mich nur weiterhin an. Es verging eine Weile. Wieso schwieg er? Die Wut, die sein Schweigen, sein bloßer Anblick in mir aufkommen ließ, überraschte mich, doch sie war gut. Besser als die Trauer. Also ließ ich ihr freien Lauf.
»Du würdest dich doch freuen. Dann müsstest du dich nicht immer so in Acht nehmen. Du könntest machen, was du willst. Alles, nur solange du nicht in meiner Nähe sein musst. Dann verlierst du wenigstens nicht deine verfluchte Beherrschung.«
Mir kamen die Tränen. Aber ich sprach weiter: »Hast du dich nicht einmal gefragt, was mit mir passiert ist? Wie ich mich fühle? Hattest du dich nicht nach mir gesehnt? Du konntest ja leicht aufatmen, aber ich? Ich wäre fast zerbrochen daran. Nein, warte. Ich bin daran zerbrochen.« Ich fühlte meine Tränen. Instinktiv wich ich vor ihm zurück. Nur noch weg von ihm. »Am Anfang dachte ich mir: Er kommt bestimmt morgen zurück. Das dachte ich eine Woche lang. Ich dachte mir: Er muss sich erst beruhigen und ist bald wieder
da. Aber nichts. Nicht ein einziges Wort von dir. Nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt. Aber es tat trotzdem weh und das tut es immer noch.«
Er schwieg. Aber sah ich da so etwas wie Qual in seinem Blick?
»Meine Eltern wussten sich keinen Rat mehr mit mir. Weißt du, dass ich daran gedacht habe, mir das Leben
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