Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
der Hauswand stand, bewunderte seine schnellen, gleichzeitig so sicheren und eleganten Bewegungen und die Leichtigkeit, mit der er die schwere Waffe führte. Dann hörte sie sein gutmütiges Lachen. Aus irgendeinem Grund ärgerte es sie. Dieses Gefühl war ihr so neu, dass sie eine Weile brauchte, um es als Eifersucht zu erkennen. Sie wusste, wie unsinnig das war. Immerhin hatte sie ihn selbst darum gebeten. Trotzdem. Sie stand wieder abseits, bestenfalls am Rand des Geschehens. Sie konnte nichts tun außer zusehen und abwarten.
Ungehalten und wütend über ihre eigenen verworrenen Gefühle beobachtete sie Pierre, um den sich in kurzer Zeit eine größere Ansammlung potenzieller Schüler gebildet hatte. Geduldig und freundlich zeigte er ihnen die Grundlagen der Fechtkunst.
Schnell und beinahe unbemerkt verging der Tag. Am späten Nachmittag kehrte Pierre zu Rowena zurück, die fröstelnd auf und ab ging. Lächelnd und in dem Versuch, unbefangen zu klingen, sagte sie: „Du bist ein guter Lehrer.“
Pierre erwiderte ihr Lächeln: „Ich war der Waffenmeister des Königs, bevor ich Hamada verließ.“
„Oh“, Rowena verstummte. Es war das erste Mal, dass er etwas über sein Leben vor ihrer Begegnung erzählte. Eine Weile sah sie zu Boden, doch dann hob sie entschlossen den Blick: „Könntest du es mir beibringen?“
Sie fasste nach seinem Schwert, das er noch immer in der Hand hielt. Die Waffe war so schwer, dass sie beide Hände brauchte, um sie anzuheben. Pierre musterte sie von Kopf bis Fuß, bevor er antwortete: „Sicher. Aber warum willst du es lernen?“, er sah, dass sie zu einer ungehaltenen Antwort ansetzte, und schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab, „du führst ein behütetes Leben und du hast jemanden, der dich beschützt. Kämpfen kannst du bereits. Warum also willst du lernen, wie man tötet?“
Rowena blinzelte, doch sie wich vor dem prüfenden Blick des Kandari nicht zurück. Sie war in dem Terrorregime ihres Onkels aufgewachsen, Hass und Tod kannte sie seit frühester Kindheit. Und trotzdem hatte sie gelernt, den Wert des Lebens jedes einzelnen Menschen zu schätzen.
„Ich habe Angst, Pierre. Was geschieht, wenn du in deine Heimat zurückkehrst oder wenn Norvan gefangen genommen wird? Oder wenn ihr diesen Krieg verliert? Ich bin von dem guten Willen anderer abhängig ohne die geringste Möglichkeit, mich zu wehren“, endlich schlug sie die Augen nieder, „ich möchte niemanden töten. Aber ich will leben und ich will, dass mein Volk endlich frei ist. Warum sollte ich nicht dafür kämpfen?“
Pierre entwand das Schwert ihren kalten, zitternden Händen und schob es zurück in seine Scheide. Dann sah er in ihr schönes, sanftmütiges Gesicht, in ihre braunen Augen, die seinen Blick sonst so fröhlich und liebreizend erwiderten und in denen jetzt Tränen schwammen.
„Ich werde es dir beibringen“, erklärte er schließlich seufzend, „ich hoffe, dass du dabei nicht zu viel verlierst.“
Pierre hielt sein Versprechen. Tag für Tag unterrichtete er die brochonischen Widerstandskämpfer im Schwertkampf und die Zahl seiner Schüler wuchs so schnell, dass Zoras Hinterhof kaum noch genug Platz bot. Doch keiner von ihnen erwies sich als so gelehrig und wissbegierig wie Rowena.
Eine Weile schienen sie am Rand der Realität zu leben. Der Krieg, die Verfolgung durch die Druiden, all das schien seine Bedeutung zu verlieren. Norvan sahen sie nur selten. Ihre Probleme verschwanden zumindest für kurze Zeit unter der dicken Schneedecke, die ganz Laprak bedeckte. So vergingen sieben Tage.
Er hätte nicht sagen können, was ihn geweckt hatte. Noch bevor er die Augen aufschlug, wusste er, dass es mitten in der Nacht war. Der Mond schien durch das Fenster und tauchte den Raum in sein silbriges Licht. Neben ihm lag zusammengerollt Rowena. Ihre dunklen Locken verdeckten ihr Gesicht, doch sie schien tief und fest zu schlafen. Dennoch fühlte er, dass sie nicht allein waren. Mit der rechten Hand tastete er nach dem Dolch, der unter seinem Kopfkissen lag. Erst als sich seine Finger um den Griff der Waffe schlossen, sprang Pierre auf und drehte sich um.
Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung. Am Tisch in der Mitte des Raumes saß, das Kinn in die rechte Hand gestützt –
„Larenia!“
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sie nicht wirklich hier war, dass er nur eine Projektion sah, ebenso wie in Andra’graco. Hin und her gerissen zwischen Freude und Wut starrte er
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