Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Aufbietung seiner gesamten Selbstbeherrschung löste er seinen Griff. „Belüge mich, Larenia, wenn du musst, aber täusche dich nicht selbst. Ich kenne dich. Du bist nicht halb so kalt und gefühllos, wie du uns glauben lassen willst. Solange du dich selbst täuschst, lieferst du den Brochoniern und den Bewahrern eine Waffe. Und sie werden nicht zögern, sie einzusetzen.“
Er drehte sich um und ging. Aber auf der Türschwelle blieb er noch einmal stehen: „Pierre hat recht, weißt du. Sie wollen dich vernichten. Und du tust gerade dein Bestes, ihnen dabei zu helfen.“
Die Tür fiel hinter Arthenius ins Schloss, ein unnatürlich lautes Geräusch in der Stille. Larenia sah ihm lange nach. Dann ließ sie sich an der Wand entlang zu Boden sinken und lehnte den Kopf an den rissigen, feuchten Stein der Wand. Ja, sie war verzweifelt, verzweifelt genug, um Hilfe bei denen zu suchen, die ihr Leben und das anderer bedenkenlos zerstört hatten und das nur für etwas mehr Macht. Und sie hatte Angst, entsetzliche Angst. Nicht um ihr eigenes Leben, sondern um das der Anorianer, der Kandari, Arthenius … Sie würde es nicht ertragen, sie leiden zu sehen. Und sie wollte nicht mehr verletzt werden, nicht auf diese Weise. Diese Art der Grausamkeit war ihr fremd und sie stand ihr hilflos gegenüber.
Larenia legte den Kopf auf die Arme und schloss die Augen. Sie wollte nicht länger das Schicksal unzähliger in den Händen halten, sie hatte es nie gewollt. Und dennoch, sie würde tun, was notwendig war, was sie immer getan hatte.
Der Morgen des fünfzehnten Tages des letzten Monats des Jahres dämmerte grau und stürmisch. Gestern hatten Späher berichtet, dass sich die Fürsten kaum einen halben Tagesritt von Arida entfernt befanden und dass man heute zweifellos mit ihrer Ankunft rechnen könne. Julien, der diese Nachricht lange erwartet hatte, war sehr zufrieden mit dieser Aussicht. Nachdem er monatelang durch Tradition und Verpflichtung ebenso wie durch Schnee und Eis in seiner Stadt eingesperrt gewesen war, hatte er nun das Gefühl, die Geschehnisse in seinem Land wieder beeinflussen zu können. Nun würde bald der letzte große Kriegsrat vor Beginn des Frühlings stattfinden.
Am Morgen dieses schicksalsträchtigen Tages schlenderte Julius zusammen mit Elaine durch die Straßen der Stadt in Richtung Palast. Es war seine Pflicht, die Fürsten zu begrüßen, doch der heraufziehende Sturm hatte alle bevorstehenden Ereignisse, wie so oft im Winter, wirkungsvoll aufgeschoben. Der junge Prinz wusste es zu schätzen. Ihm war klar, dass die Zeit der Ruhe bald vorbei war. Nach der Wintersonnenwende wurden die Tage länger und die Zeit der Schneeschmelze begann. Dann kam der Frühling und der Krieg mit all seiner Gewalt und Grausamkeit würde weitergehen. Er hatte nicht gewagt, darüber nachzudenken, doch jetzt konnte er es nicht länger ignorieren. Doch so oft er sich auch daran erinnerte, dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem es kein Morgen mehr gab, er konnte sich nicht vorstellen, dass in vier oder fünf Monaten alles vorüber sein sollte. Und gerade heute erschien ihm die Zukunft um so vieles wirklicher als die drohenden Schlachten.
Julius sah seine Begleiterin an und suchte vergeblich nach Worten. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. So versank er in ihren Anblick und eine Weile vergaß er sein Anliegen. Das letzte Dreivierteljahr war nicht spurlos an Elaine vorbeigegangen. Die letzte Spur von Kindlichkeit, der weiche Zug in ihrem Gesicht, der verschmitzte, fröhliche Blick ihrer Augen, war verschwunden. Julius hatte stets geglaubt, sie sei um einiges jünger als er selbst, doch jetzt wurde ihm bewusst, dass er nur zwei Jahre älter war. Bewundernd sah er die junge Frau an seiner Seite an. Er betrachtete ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den sanft geschwungenen Augenbrauen. Sie war im letzten halben Jahr ein Stück gewachsen, sodass sie jetzt nur noch eine Handspanne kleiner war als er, und sie sah Larenia längst nicht mehr so ähnlich wie früher. Aber sie war schön, sehr schön sogar. Julius dachte an den letzten Winter, den sie zusammen in Komar verbracht hatten. Ein ganzes Leben schien zwischen jener unbeschwerten Zeit und heute zu liegen. Elaine erschien ihm ernster und zurückhaltender als damals, aber die meisten seiner Freunde waren nicht mehr so offen und redselig wie früher. Und trotzdem war sie noch immer die Gleiche, der gleiche Charme, die gleiche Liebenswürdigkeit.
Jetzt drehte sie sich
Weitere Kostenlose Bücher