Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
folgten ihnen und Pierre zog seine Begleiterin hastig in den Schatten. Sie beschleunigten ihre Schritte, um dem ungewollten Interesse zu entkommen. Erst als sie in eine weitere dunkle Seitenstraße einbogen, setzte Pierre ihr Gespräch fort.
„Manche von uns haben große Kräfte …“
„So wie eure Prinzessin?“
„Wer?“, irritiert sah er sie an, doch dann verstand er sie und ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht, „ach, du meinst Larenia. Ja, sie ist wirklich sehr mächtig. Allerdings kann ich dir nicht viel darüber erzählen. Ich bin ein Kämpfer, kein Magier.“
„Hast du denn gar keine besonderen Fähigkeiten?“, sie klang nicht beruhigt oder erleichtert, wie Pierre erwartet hatte, sondern vielmehr enttäuscht.
„Keine, die man bei den Kandari als besonders bezeichnen würde. Ich bin kein guter Telepath –“
„Telepathie?“, sie hustete, „heißt das, du kannst Gedanken lesen?“
„Wie ich bereits sagte: nicht sehr gut. Warum beeindruckt dich das so? Silvano kann das doch auch.“
Aus dem Augenwinkel heraus sah Pierre, wie sie bei der Erwähnung des jungen Mannes errötete, doch sie beherrschte sich sofort. Mit einem gutmütigen Lächeln wechselte Pierre das Thema: „Du kommst nicht aus Butrok, oder? Wo wirst du heute Nacht schlafen?“
„Wir kennen uns erst seit heute und du sorgst dich um mein Wohlergehen? Die Kandari haben ihren schlechten Ruf wirklich zu Unrecht“, sie grinste belustigt, „ich komme aus Nile, einer Stadt auf der anderen Seite des Landes. Wenn ich in Butrok bin, wohne ich stets bei Zora.“
„Und sie erwartet von dir, dass du allein mitten in der Nacht durch die Stadt läufst, während sie mich für so schutzbedürftig hält, dass sie dir befiehlt, mich zu begleiten?“, kopfschüttelnd blieb er stehen. „Ihr seid ein sonderbares Volk.“
„Was soll mir schon passieren?“, in diesen Worten steckte die gleiche Bitterkeit, die Pierre oft an Rowena aufgefallen war. „Niemand in Butrok würde jemals eine Frau verdächtigen.“
„Du solltest froh darüber sein“, er sah sie vollkommen ernst an, bis sie den Blick senkte, „und du solltest jetzt gehen. Den Rest des Weges finde ich auch allein.“
„Larenia! Arthenius!“, die Tür flog krachend hinter Sibelius ins Schloss, als er sein Haus betrat. Er rannte beinahe Larenia um, die nahe dem Eingang an der Wand lehnte, und kam kaum eine Armeslänge von Arthenius entfernt zum Stehen. Dieser sah den Heerführer der Kandari ruhig und beherrscht, allerdings mit einem amüsierten Blitzen in den Augen, an.
„Ich kann euch heute zu Laurent bringen, doch dafür müssen wir sofort aufbrechen“, Sibelius drehte sich zu Larenia um, die seinen Blick mit dieser beängstigenden, eisigen Ruhe erwiderte, „seid ihr so weit?“
„Das sind wir seit zehn Tagen“, ertönte eine Stimme hinter ihnen.
„Sehr gut, Merla. Aber du wirst hierbleiben.“
Empört sah sie Sibelius an: „Warum?“
„Du kannst uns nicht helfen“, sagte Larenia mit leiser, klarer Stimme, die keinerlei Gefühl verriet, „doch wir müssten Rücksicht auf dich nehmen. Das können wir uns nicht leisten.“
Einen Augenblick lang überlegte Merla, ob sie darauf antworten sollte, aber sie wagte es nicht, Larenia zu widersprechen. So zuckte sie nur mit den Schultern und verließ mit einem demonstrativ ungehaltenen Blick das Haus. Sibelius sah ihr einen Augenblick lang nach, bevor er sich wieder an Larenia und Arthenius wandte. Als er jetzt sprach, war jede Spur von Humor aus seiner Stimme gewichen: „Also gut. Roxana führt euch durch einen selten benutzten Eingang in den Thronsaal. Laurent wird dort sein, zusammen mit einigen Bewahrern. Ich weiß, dass das nicht optimal ist, aber es ist die beste Möglichkeit in den nächsten zwei Monaten.“
Arthenius und Larenia wechselten einen kurzen Blick. Sie hob fragend die Augenbrauen und er antwortete mit einem angedeuteten Schulterzucken.
„Wie kommst du in den Palast, Sibelius?“, Arthenius zog die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht und warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Es war später Nachmittag und die Sonne ging bereits unter.
„Ganz offiziell durch den Haupteingang“, der Heerführer der Kandari öffnete die Tür und wartete, bis Larenia vor ihm ins Freie trat, „und jetzt hört mir zu!“, befehlsgewohnt musterte er zuerst sie, dann Arthenius: „Ihr werdet jeder Anweisung von Roxana folgen. Ohne Diskussion, ohne zu widersprechen.“
Er sah die beiden so lange
Weitere Kostenlose Bücher