Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
in ihren blauen Augen wirkte beinahe hilflos.
Langsam hob Arthenius den Arm und berührte behutsam ihre linke Wange. Zärtlich strichen seine warmen Fingerspitzen über ihre kühle Haut, sie folgten dem tiefen Kratzer vom Haaransatz bis zum Mundwinkel und unter seiner Berührung begann sich die Wunde zu schließen.
Arthenius war kein Heiler. Er hatte die Begabung seines Bruders nicht geerbt, doch darauf war er auch nicht angewiesen. Er besaß ein anderes Talent, eine Gabe, die auf ihre Weise ebenso gefährlich war wie Larenias Fähigkeiten. Es war eine einzigartige Spielart der Telepathie, die ihm eine gewisse Kontrolle über die Kräfte jedes anderen verlieh, über Felicius’ Heilfähigkeit, Philipes Voraussicht, sogar über Larenias grenzenlose Macht. Allerdings war es schwierig und kostete ihn stets große Überwindung, sodass er normalerweise auf diese seiner Gaben verzichtete. Larenia war die einzige Ausnahme. Bei ihr war es ihm immer leichtgefallen und es hatte sich auf schwer zu beschreibende Weise richtig angefühlt, nicht wie ein Verstoß gegen das erste und unumstößliche Gesetz, seine telepathischen Fähigkeiten niemals gegen den Willen eines anderen anzuwenden. Sogar jetzt war es noch so, obwohl Larenia mit aller Kraft versuchte, die Distanz zwischen ihnen zu wahren.
Schließlich ließ er den Arm wieder sinken und blickte in ihr Gesicht. Eine Strähne ihrer zerzausten weißen Locken war ihr ins Gesicht gefallen und er strich sie zurück, behutsam, zärtlich und mit der größten Selbstverständlichkeit. Mit ihren Gedanken war sie unendlich weit weg, das erkannte Arthenius, und wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, was um sie herum geschah. Doch etwas tief in ihrem Unterbewusstsein reagierte auf seine Berührung, seine Nähe. Ihre schlanken, beinahe zerbrechlich scheinenden Finger schlossen sich um seine linke Hand, bevor er seinen Arm zurückziehen konnte, und seine Handfläche schmiegte sich an ihre Wange. Ihre Haut war eisig kalt.
Arthenius sah sie an, er blickte in ihre unergründlichen dunkelblauen Augen und versuchte, sie zu verstehen, zu begreifen, was sie von ihm erwartete, was sie wirklich wollte. Aber nichts in ihrer Haltung oder ihrem Gesicht verriet ihre Gedanken. Sie schien sich vollkommen in einen Winkel ihres Verstandes zurückgezogen zu haben, einen Winkel, in den er ihr nicht folgen konnte.
Halbherzig versuchte er, seine Hand aus ihrem Griff zu lösen, doch sie hielt sein Handgelenk mit erstaunlicher Kraft fest. Und so gab er nach. Welche Rolle spielte es schon? Er konnte ihr nicht helfen, und wenn es das war, was sie wollte, warum sollte er dann dagegen ankämpfen?
Er konnte sich nicht erinnern, sich bewegt zu haben, doch im nächsten Augenblick hielt er sie in seinen Armen und der Zauber ihrer Persönlichkeit, die Anziehungskraft, die sie für ihn immer gehabt hatte, hüllte ihn völlig ein. In ihrer Nähe war es einfach, alles andere zu vergessen, und vielleicht war es gerade das, was sie wollte …
Plötzlich ließ sie seine Hand los. Verstört und beinahe erschrocken sah sie zu ihm auf, bevor sich wieder dieser Ausdruck erzwungener Ruhe über ihr Gesicht legte und sie den Blick abwandte. Sofort ließ Arthenius sie los und rutschte ein Stück zur Seite, doch obwohl er versuchte, es vor ihr zu verbergen, fühlte sie sein schmerzliches Zusammenzucken.
„Es tut mir leid, Larenia“, flüsterte er unsicher und kaum hörbar. Sie schüttelte nur wortlos den Kopf, ohne ihn anzusehen.
Angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Larenia starrte scheinbar konzentriert zu Boden und Arthenius hatte mehr denn je das Gefühl, dass sie innerlich zu Eis erstarrte. Schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde, sprach er sie an: „Larenia?“
Beinahe widerwillig hob sie den Kopf und fröstelnd blickte er in ihre dunklen, erloschen wirkenden Augen. Da war nichts, nicht die geringste Andeutung eines Gefühls, nicht einmal die eisige Kälte, an die er sich inzwischen gewöhnt hatte, gar nichts. Für einen kurzen Augenblick hatte sie die Kontrolle verloren, doch das würde nicht noch einmal geschehen.
„Du siehst müde aus“, sie sprach Asana’dra-Dialekt, doch als ihr das bewusst wurde, wechselte sie in die gemeinsame Sprache, die bei ihr unpersönlich und überaus exakt wirkte, „schlaf jetzt.“
Einen Augenblick lang sah er sie noch an, doch sie hatte den Blick bereits wieder abgewandt. So lehnte er den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Dieses Mal schlief
Weitere Kostenlose Bücher