Das Vermächtnis der Montignacs
Junge verschwunden, ein Kind noch, mit einem Arm voller Zeitungen und Pappschildern auf Brust und Rücken. Auf den Schildern hatte eine Schlagzeile gestanden. Bald Urteilspruch für königlichen Vetter .
»Man wird sie einfach nicht los«, stellte Roderick missmutig fest.
Jane lehnte sich wieder zurück und zog ihre Puderdose aus der Handtasche hervor, um in dem kleinen Spiegel nachzusehen, ob ihr Hut nach dem Ruck noch richtig saÃ. »Denkbar ist natürlich auch, dass wir zurzeit wegen des Prozesses von der Gästeliste gestrichen worden sind. Womöglich möchte der König nicht, dass man glaubt, er würde dich auf irgendeine Weise beeinflussen.«
»Das wäre einleuchtend«, sagte Roderick.
»Aber er kennt dich ja nicht und weià nicht, wie unbestechlich du bist. Und wie furchtbar ehrlich«, fügte sie mit einem winzigen Hauch Sarkasmus hinzu. »Diese berühmte Integrität und Ethik. Das Unparteiische des richterlichen Systems â all das weià er ja nicht, oder?«
»Ich möchte eigentlich annehmen, dass mein Ruf mir vorauseilt«, erwiderte Roderick und versuchte, bescheiden zu bleiben. »SchlieÃlich bin ich seit fünfzehn Jahren Richter am Hohen Gerichtshof und glaube, ein gewisses Maà an Achtung errungen zu haben.«
»Was meinst du, was er von all dem hält?«
»Der König?«
»Ja.«
»Wovon soll er etwas halten?«
»Von dem Fall, Roderick«, sagte Jane ungeduldig. »Stell dich nicht dumm. Von Henry Domson. Seinem Cousin.«
»Seinem Cousin dritten Grades«, verbesserte Roderick. »Henry Domson wurde von Geschworenen seines Ranges schuldig gesprochen, einen Polizisten kaltblütig ermordet zu haben. Einen Polizisten, der letztlich dem König verantwortlich ist. Ich nehme an, der König vertritt die Ansicht, dass das Urteil gemäà dem Verbrechen ausfallen muss.«
»Aber es geht doch um seinen Cousin«, sagte Jane.
»Seinen Cousin dritten Grades«, beharrte Roderick.
Daraufhin schwiegen sie für eine Weile, doch es war klar, dass Jane etwas loswerden wollte, jedoch noch nicht wusste, wie sie es in Worte kleiden sollte. Nur ein einziges Mal in ihrer Ehe hatte sie versucht, ihren Mann bei seiner Entscheidung über einen Fall zu beeinflussen. Das hatte er ihr damals äuÃerst übel genommen, und es war zum Streit gekommen, was sonst nur selten geschehen war. Zu guter Letzt hatte sie versprochen, sich nie mehr in eines seiner Verfahren einzumischen. Doch diesmal stand zu viel auf dem Spiel: ihre gesellschaftliche Stellung, Einladungen zu Gartenfesten im Buckingham-Palast, ein Platz anlässlich der Krönung ⦠Aussichten, die zum Greifen nah waren. Auf dem Weg an Holborn vorüber war die Spannung zwischen ihnen spürbar geworden.
»Roderick«, brach es schlieÃlich aus Jane hervor.
»Nein, Jane«, entgegnete er scharf.
»Roderick, bitte lass mich nur das eine sagen â«
»Du sollst überhaupt nichts sagen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, und sie steht fest.«
»Bitte, lass mich ausreden«, sagte sie. »Ich will nur dieses eine sagen, und danach werde ich über das Thema nichts mehr verlauten lassen.« Sie zögerte kurz. »Bitte, Roderick«, wiederholte sie, »darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Dann sag es«, entgegnete Roderick, der die Debatte beenden wollte. »Aber ich warne dich. Du verschwendest deine Zeit, ganz gleich, um was du bitten willst. Ich habe mich entschieden.«
»Gut. Es ist nur diese eine Sache. Nein, eigentlich sind es zwei.«
»Ha!«, sagte Roderick.
»Erstens, ganz gleich, was dieser junge Mann angeblich getan hat â«
»Nicht angeblich.« Roderick wurde ärgerlich. »Er ist schuldig gesprochen worden. Wir haben ein Geschworenensystem, und wenn jemand schuldig â«
»Na gut, ganz gleich, was dieser junge Mann getan hat«, fiel sie ihm ins Wort, um eine semantische Diskussion zu vermeiden, »ich finde, es wäre eine groÃe Schande für die Nation, wenn ein Cousin des Monarchen, ein Cousin dritten Grades«, fügte sie hastig hinzu, »zum Tode verurteilt würde. Ich meine, was sagt denn das über unsere Gesellschaft aus? Herrschaftszeiten noch mal, der Junge hat schlieÃlich Eton besucht. Ich könnte mir denken, dass der König dem Richter, der das erkannt hat und den Jungen laufen lässt, ausgesprochen
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