Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
sie sich tatsächlich sorgte, rang sich Mary ein höfliches Lächeln ab. Sie rechnete es Winston McCauley hoch an, dass er sich bereit erklärt hatte, in Abbotsford zu bleiben und sie zu beschützen, während Quentin und Sir Walter unterwegs waren, um Erkundigungen einzuholen.
»Unbedingt.« Der weltgewandte Gast, der am Kamin des Salons stand und mit dem Gluteisen in der Hand gedankenverloren in den Flammen stocherte, erwiderte das Lächeln. Sein pomadisiertes Haar glänzte im Widerschein des Feuers. »Schließlich sind Sie von Gentlemen umgeben, die jederzeit ihr Leben riskieren würden, um das Ihre zu schützen.«
»Das ist lieb von Ihnen.« Mary legte das Buch beiseite, in dem sie erfolglos zu lesen versucht hatte: ein Gedichtband von Robert Fergusson, in dessen schönen Worten sie ein wenig Ablenkung zu finden hoffte. »Und Sie haben recht, ich sorge mich tatsächlich. Allerdings nicht um mich. Die jüngsten Ereignisse sind es, die mich bedrücken.«
»Das kann ich gut verstehen. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass ein Toter unter die Lebenden zurückkehrt.«
»Nein«, gab Mary zu. Aber das allein war es nicht. Was ihr vor allem zusetzte, war die Tatsache, dass ihr unbekannter Gegner weder ein Gesicht noch einen Namen hatte.
Wer waren jene geheimnisvollen Gegenspieler, die Sir Walter hinter all dem vermutete? Die Schottland in die Abhängigkeit treiben und sich widerrechtlich bereichern wollten und die dafür auch nicht vor Mord zurückschreckten?
Die Ungewissheit, das Gefühl, einer fremden, unheimlichen Kraft schutzlos ausgeliefert zu sein, war beinahe unerträglich – umso erleichterter war sie, sich in Winstons Gesellschaft zu befinden, den sie längst nicht mehr als Fremden oder auch nur als Gast, sondern als Vertrauten, als Freund wahrnahm.
»Und Sie haben wirklich nichts gewusst?«, hakte McCauley nach, der Sir Walters unvermittelte Rückkehr offenbar noch immer nicht verwunden hatte. »Keiner von Ihnen?«
»Keiner«, bestätigte Mary. »Er hat uns alle getäuscht, auch seine Kinder und seine Ehefrau.«
»Das ist unglaublich.« McCauley warf das Eisen in die Glut. »Wer, so frage ich Sie, tut so etwas? Was für ein Mensch ist bereit, seinen Liebsten so etwas zuzumuten?«
Mary lächelte. »Ein außergewöhnlicher Mensch, Winston. Jemand, der zum Äußersten entschlossen ist und alles tun würde, um seine Familie, sein Erbe und sein Land zu beschützen. Wer Sir Walters Romane liest, könnte leicht auf den Gedanken verfallen, dass er ein weltfremder Träumer ist, der nur in der Vergangenheit lebt, aber das ist nicht der Fall. Sir Walter ist durch und durch ein Mann der Vernunft, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und zu jeder Zeit bereit ist, mit allem, was er hat, für seine Überzeugung einzutreten.«
»Das ist nicht zu leugnen«, stellte McCauley trocken fest. »Und war sein Vorgehen wenigstens von Erfolg gekrönt? Hat er einen Verdacht, wer hinter dem Komplott stecken könnte?«
»Wer weiß?« Mary zuckte mit den Schultern. »Sir Walter hat viele Feinde: Gegner, die er vor Gericht in die Schranken wies, missgünstige Zeitgenossen, die ihm den Erfolg als Schriftsteller neiden, schottische Patrioten …«
»Patrioten?«, hakte McCauley nach. »Ich dachte immer, Sir Walter Scott wäre selbst ein glühender Patriot?«
»Das ist er«, stimmte Mary zu, »und er hat es jüngst bewiesen, indem er jene Flugblätter verfasste. Aber Sir Walter gehört nicht zu denen, die für ein freies Schottland kämpfen. Er hat nie an der Union mit England gezweifelt und stets betont, dass die Zukunft Schottlands nur in einem vereinten Königreich liegen kann. Nicht von ungefähr hat er den Auftrag erhalten, den Besuch von King George in Edinburgh zu organisieren. Er hat dadurch viel für Schottland erreicht, aber es gibt auch Menschen, die ihm dies verübeln und ihm vorwerfen, dass er sich bei den Engländern angebiedert hätte.«
»Also könnte der Feind auch hier zu suchen sein?«
»Oder in den Reihen seiner Gläubiger, von denen es nicht wenige gibt«, mutmaßte Mary. »Bedauerlicherweise lässt uns Sir Walter nicht an all seinen Gedanken teilhaben. Aber ich denke nicht, dass er den entscheidenden Hinweis bereits gefunden hat.«
»Also lauert dieser Feind, wer immer es sein mag, noch immer dort draußen und wartet auf eine neue Gelegenheit, um zuzuschlagen«, folgerte McCauley. »Bei allem Respekt gegenüber Sir Walter und allem, was er geleistet hat – das kann ich nicht
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