Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Namen kenne ich nicht. Macky hat ihn immer nur den Vornehmen genannt, weil er so gut gekleidet war und so feine Manieren hatte. Kam wohl aus der Stadt.«
»Haben Sie diesen Mann je gesehen?«
»Nein, ich kenne ihn nur aus Mackies Erzählungen. Aber er hat ihn wohl öfter getroffen, zuletzt vor ein paar Tagen. Danach war er bei mir und warf mit Geld nur so um sich. Das hier hat er mir geschenkt.« Sie griff in den Ausschnitt ihres Kleides und zog einen aus Bernstein gearbeiteten Anhänger hervor. »Er hat gesagt, dass er neue Arbeit hätte. Der Vornehme hatte ihm wohl Geld gegeben, damit er irgendetwas für ihn tut.«
»Wie zum Beispiel einen Einbruch verüben?«, fragte Quentin.
»Nein.« Natty schüttelte entschieden den Kopf. »Mackie hätte niemals etwas gestohlen, dafür war er viel zu rechtschaffen.«
»Sheriff Slocombe sagt etwas anderes.«
»Weil er ihn nicht so gut kannte.« Tränen lösten sich aus den Augenwinkeln der jungen Frau und rannen in gezackten Rinnsalen über ihre Wangen. »Er hat nur das Äußere gesehen. Aber tief in seinem Herzen war Mackie anders … freundlich und empfindsam und …« Sie schluckte, schüttelte den Kopf. »Er hat immer davon gesprochen, dass er mich eines Tages rausholen würde, fort von hier, weit weg … Aber nun«, fügte sie leise hinzu, »wird daraus wohl nichts mehr werden.«
»Das tut mir wirklich leid«, versicherte Sir Walter.
»Er hat gesagt, dass diese Arbeit ihm genug Geld einbringen würde, um mich bei Molly auszulösen und zwei Plätze auf einem Schiff nach Amerika zu kaufen.«
»Sie wollten in die Neue Welt?«, fragte Quentin.
»Ja.« Natty sah ihn traurig an. »Es soll dort sehr schön sein. Ein Land, in dem noch Platz für Träume ist.«
»In der Tat.« Quentin zwang sich zu einem Lächeln.
»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, Miss Natty?«, erkundigte sich Sir Walter sanft.
Sie nickte nur.
»Wissen Sie, ob Mr. Graham des Lesens mächtig war?«
»Warum interessiert Sie das?«
»Konnte er lesen oder nicht?«, beharrte Sir Walter.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber er wollte es lernen. Er hat immer davon geträumt, mehr aus sich zu machen.«
»Nun, Miss Natty«, entgegnete Sir Walter, »bedauerlicherweise steht es nicht in meiner Macht zu ändern, was geschehen ist. Aber ich kann dies hier tun.« Erneut erschien seine Hand. Darin lag – Quentin traute seinen Augen nicht – eine 50-Pfund-Note.
»Aber das … ist zu viel!«, erklärte Natty bestürzt.
»Im Gegenteil, Sie haben uns sehr geholfen«, versicherte Sir Walter. »Natürlich weiß ich, dass Geld Ihren Verlust nicht aufwiegen kann. Aber wenn Sie ein neues Leben beginnen wollten, so können Sie dies nun tun.«
Natty zögerte noch immer, als könnte sie ihr Glück nicht fassen. Dann griff sie zaghaft zu. Mit gemischten Gefühlen sah Quentin, wie der Geldschein seinen Besitzer wechselte. So sehr er bedauerte, was geschehen war, und so sehr er Natty ein neues Leben wünschte, so genau wusste er auch um die angespannte Finanzlage seines Onkels. Wenn eines in diesen Tagen sicher war, dann dass Walter Scott keine fünfzig Pfund besaß, die er einfach so aus den Händen geben konnte. Quentin erwog einen Augenblick lang, ob er Einspruch erheben sollte, brachte es jedoch nicht über sich.
»Wie soll ich Ihnen nur danken?«, schluchzte Natty, und noch ehe Sir Walter reagieren konnte, fasste sie seine behandschuhte Rechte und küsste sie.
»Wir sind es, die zu danken haben«, versicherte er mit jener Mischung aus Ritterlichkeit und Edelmut, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien.
Natty bedankte sich noch einmal, dann wandte sie sich ab und huschte davon, als fürchtete sie, ihr anonymer Gönner könnte es sich noch einmal anders überlegen. Oder sie zweifelte so langsam an ihrer beider Verstand und wollte nicht länger die Gesellschaft zweier Verrückter teilen.
Seufzend wies er den Kutscher an, nach Abbotsford zurückzukehren, dann stieg er selbst ein und ließ sich Sir Walter gegenüber nieder. »War das wirklich nötig?«, wollte er wissen.
»Wovon sprichst du?«
»Die Zuwendung«, erklärte Quentin. »Hätten zwanzig Pfund nicht auch genügt?
»Träume sind eben kostspielig«, entgegnete Sir Walter mit mildem Lächeln, während die Kutsche wieder anfuhr. »Außerdem hat uns die junge Dame einen wertvollen Dienst erwiesen.«
»Tatsächlich?« Quentin runzelte die Stirn.
»Zum Beispiel wissen wir jetzt, dass es diesen geheimnisvollen Auftraggeber
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