Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
dafür vergessen hat?« Sie war lauter geworden, als sie es beabsichtigt hatte. Tränen standen ihr in den Augen, und sie war sich keineswegs sicher, ob sie überhaupt noch über Abbotsford sprach.
»Du hast dich verändert«, stellte Sir Walter nüchtern und ohne erkennbare Überraschung fest. »Die Mary, die ich einst kannte, hätte diese Fragen nie gestellt.«
»Ich bin reifer geworden«, entgegnete Mary mit bebender Stimme. »Die Zeiten haben sich geändert.«
»Das ist allerdings wahr«, bestätigte Sir Walter nickend und dachte einen Augenblick lang nach, wobei unmöglich zu erkennen war, was er dachte. »Du hast recht, mein Kind«, erwiderte er dann zu ihrer Überraschung. »Bisweilen kommen wir im Leben in Situationen, in denen wir Entscheidungen treffen müssen. Bisweilen ist es besser, Dinge loszulassen, als an ihnen festzuhalten und daran zu zerbrechen – vorausgesetzt, die Gründe sind die richtigen. Eines nämlich solltest du auf gar keinen Fall tun.«
»Was?«, fragte Mary.
»Aufgeben«, erwiderte Sir Walter und sah sie dabei herausfordernd an. »Du solltest niemals aufgeben, mein Kind. Das habt ihr beide nicht verdient.«
»Elender Staub.«
Als Quentin einen der in dickes Leder geschlagenen Folianten aus dem Regal zog, war die graue Wolke, die er dabei aufwirbelte, so dicht, dass es ihm für einen Moment nicht nur die Sicht, sondern auch den Atem raubte. Hustend schleppte er den Band zu dem schmalen Tisch, der in der Mitte des Gewölbes stand und auf dem er seine Laterne abgestellt hatte. Im Schein des Gaslichts betrachtete er, was er zutage befördert hatte.
Knorriges altes Leder umfasste einen Kodex, der viele Pergamentseiten umfasste: in lateinischer Sprache abgefasste und in Minuskelschrift gehaltene Texte, die an den Rändern mit kunstvollen Ornamenten versehen waren. Vermutlich stammte der Kodex, der Jahrhunderte alt zu sein schien, aus dem Skriptorium eines Klosters und hatte seinen Weg irgendwie nach Abbotsford gefunden. Dass sein Onkel eine große Leidenschaft hegte, was das Sammeln von Büchern betraf, war Quentin klar gewesen. Dass Sir Walter jedoch auch derartige Kunstwerke sein Eigen nannte, war ihm bislang entgangen.
Auch McCauley war offenbar tief beeindruckt. Er sagte kaum ein Wort, während er die Regale abschritt und im spärlichen Licht die Beschriftungen studierte. »Hier sind Handschriften aus Klöstern in Wales und Irland«, vermeldete er. Seine Stimme klang seltsam dumpf und trocken unter der niederen, holzgetäfelten Decke und den mit Büchern gefüllten Regalen. »Bangor, Kells, Tintern und noch andere.«
Quentin nickte. »Dies hier scheint ebenfalls aus Klosterbeständen zu stammen. Laut Etikettierung kommt es aus dem Benediktinerkloster Durham.«
»Benediktiner?«, hakte McCauley nach.
»Ja, warum fragen Sie?«
»Nur so … soweit ich weiß, hat es auch hier in Schottland bedeutende Benediktinerklöster gegeben.«
»Das ist richtig«, stimmte Quentin zu. »Dunfermline nördlich von Edinburgh war das mit Abstand größte und einflussreichste Kloster der gesamten Gegend. Diese Regale hier scheinen mit Exemplaren aus den Beständen der Klosterbibliothek bestückt zu sein.«
»Tatsächlich?« McCauley kam zu ihm herüber.
»Wenn ich nur wüsste, wonach genau wir suchen«, murmelte Quentin. »Mein Onkel meinte, wir sollen nach allem Ausschau halten, das uns verdächtig erscheint, aber irgendwie erscheint mir hier alles verdächtig – und nichts.«
»Ich weiß, was Sie meinen, werter Freund«, versicherte McCauley, der nach der Laterne gegriffen hatte und ihren Lichtschein über die ledernen Buchrücken wandern ließ, die Sir Walter in mühevoller Arbeit beschriftet hatte. »Abhandlungen über Kirchengeschichte«, las er vor. »Ein zweibändiges Werk über die Äbte des Klosters Melrose … eine Übersetzung der Platonischen Erkenntnistheorie … die gesammelten Schriften Senecas … eine Bibel aus der Zeit der Wikingerraubzüge … eine Ge…«
Er verstummte plötzlich, dafür griff er in das Regal, packte einen der Bände und riss ihn förmlich heraus. Quentin war einigermaßen froh, dass sein Onkel nicht anwesend war. Sir Walter mochte es ganz und gar nicht, wenn man alten Werken nicht die Sorgfalt und Vorsicht zukommen ließ, die ihrem zerbrechlichen Wesen entsprach.
»Was haben Sie da?«, fragte er McCauley, der einen großen, etwa vier Fingerbreit starken Folianten in der Hand hielt, den er staunend betrachtete.
»Eine Genealogie«, gab der
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