Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
blickte sich nach den beiden Frauen um, die in wollene Mäntel gehüllt oben auf dem Achterdeck standen und die wenigen Sonnenstrahlen genossen, die hier und dort durch die Wolkendecke sickerten.
»Was für ein Vortrag ist das, den Sie in Edinburgh halten sollen?«, fragte Quentin.
»Ich spreche vor Angehörigen der medizinischen Fakultät der Royal Academy«, erwiderte McCauley. »Über Methoden moderner Feldmedizin.«
»Tatsächlich?« Quentin war verblüfft.
»Nun, man mag es mir nicht ansehen«, entgegnete McCauley lächelnd, »aber ich war viele Jahre als Chirurg in Militärdiensten, zuletzt während der Kämpfe gegen die Spanier. Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, möchte ich niemandem zumuten – aber sie haben mich auch zu einem anerkannten Spezialisten auf dem Gebiet partieller Amputationen gemacht. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gerne …«
»Mit Verlaub, lieber nicht«, wandet Quentin ein. Er hatte genug damit zu tun, seine Seekrankheit unter Kontrolle zu behalten, auch ohne dass McCauley ihm von der blutigen Arbeit in einem Feldlazarett berichtete.
»Wie Sie möchten.« McCauleys Grinsen wurde noch ein wenig breiter. »Glauben Sie mir, mein Freund, Sie tun gut daran, sich aus Dingen wie diesen herauszuhalten. Hätte ich noch einmal die Wahl, würde ich es ebenfalls tun. Aber bisweilen«, fügte er leiser und wohl nur an sich selbst gewandt hinzu, »stellt sich uns diese Frage eben nicht.«
Vom Achterdeck konnten sie das helle Gelächter der beiden Frauen hören, das der Wind herantrug.
»Wer sie wohl sein mag?«, rätselte Quentin.
»Schwer zu sagen. Womöglich eine reiche Erbin, die man auf diese Weise loswerden wollte. Oder vielleicht war sie auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort und wurde ausgeraubt.«
»Vielleicht«, pflichtete Quentin bei. »Aber weshalb kann sie sich nicht erinnern?«
»Im Krieg habe ich so etwas öfter erlebt. Soldaten, die im Gefecht schwer verwundet wurden, konnten sich später häufig nicht mehr daran erinnern, wie es geschehen war. Ich nehme an, dass unser Gehirn uns zu schützen versucht, indem es die Erinnerung an Erlebnisse, die besonders schrecklich oder gar lebensbedrohend waren, einfach ausblendet.«
»In dem Fall wäre es noch besser zu wissen, was mit ihr geschehen ist«, meinte Quentin. »Womöglich hat ein Verbrechen stattgefunden, und die Täter befinden sich noch auf freiem Fuß.«
»Davon ist wohl auszugehen«, stimmte der Arzt zu. »Aber wir werden es sicher erst erfahren, wenn Madame Brighids Erinnerungen zurückkehren.«
»Und wann wird das geschehen?«
»Das lässt sich unmöglich sagen. Ich habe Fälle erlebt, in denen die Erinnerung nach wenigen Tagen zurückgekehrt ist, und andere, in denen der Verlust für immer bestehen blieb.«
»Schrecklich«, flüsterte Quentin. Der Gedanke, existieren zu müssen ohne einen Hinweis darauf, wer man war, woher man kam oder wohin man gehörte, entsetzte ihn. »Und was kann man dagegen tun?«
»Wenn ich das wüsste.« McCauley zuckte mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es eine Maßnahme gegen diese Art von Gedächtnisverlust gibt. Es ist sicher gut für sie, wenn sie unter Menschen kommt. Davon abgesehen, ist Zeit jedoch wohl das einzige Heilmittel, das Wunden dieser Art zu schließen vermag, und dazu ist viel Geduld vonnöten. Wie immer, wenn die Seele Schaden erlitten hat.«
Quentin nickte – und sah unwillkürlich zu Mary, die dort noch immer stand und sich mit Brighid unterhielt, ungeachtet der rauen Brise, die um das Achterdeck wehte.
»Darf ich … Sie etwas fragen?«, erkundigte er sich zögernd.
»Natürlich.«
Quentin holte tief Luft, suchte nach passenden Worten. Es war schwer, sich einem Fremdem anzuvertrauen, ohne dabei das Gefühl zu haben, Mary zu verraten. »Halten Sie es für möglich«, begann er schließlich, »dass ein Erlebnis, das zwar nicht Todesgefahr bedeutete, aber dennoch schweren Verlust, eine Seele ähnlich verletzen kann wie …?«
In diesem Moment war ein lauter Schrei zu hören.
»Nanu?«, wollte McCauley wissen. »Etwa noch ein blinder Passagier?« Süffisant hob er eine Braue.
Ein weiterer Schrei erklang.
»Hilfe! Helft mir doch, verdammt!«
Die Stimme war panisch und heiser. Quentin glaubte zu erkennen, dass sie Sean O’Leary gehörte, dem Maat des Schiffes. »Das kam von unter Deck!«, stellte er fest.
Inzwischen hatten die ersten Matrosen auf den Hilferuf reagiert. Hals über Kopf rannten sie zum Niedergang
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