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Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Florenz hatte zwei Seiten: eine lichte und helle, die sich bei Tage in ihrer ganzen Pracht und Schönheit zeigte, und eine sehr viel hässlichere, die dann zum Vorschein kam, wenn die Lichter verloschen und die Schwärze der Nacht sich über die Stadt am Arno senkte. Armut und Mangel herrschten dann, wo sonst Überfluss regierte, und das Elend kroch aus den Löchern, in denen es sich tagsüber verbarg. Als Serena zum ersten Mal nach Florenz gelangt war, hatte sie das Gefühl gehabt, eine andere Welt zu betreten. Die Welt, in der sie nun lebte, war noch einmal von gänzlich anderer Natur, eine Welt der Obdachlosen, der Bettler und Tagelöhner, der Waisen und Verstoßenen.
    Und sie gehörte dazu.
    Anfangs hatte sie überlegt, ob sie nach Pistoia zurückkehren sollte, den Gedanken aber rasch wieder verworfen. Sie wäre lieber elend verhungert, als zu ihrem Onkel zurückzukehren. Und was Don Alfredo betraf, so hätte er ihr zweifellos geholfen, aber dann hätte sie ihm erzählen müssen, wie es dazu gekommen war, dass sie Florenz verlassen musste, und das wollte sie auf keinen Fall, hauptsächlich aus Scham.
    Das Gefühl, schwere Fehler begangen zu haben, quälte sie. Hatte sie sich dem Herzog aus freien Stücken hingegeben? Hatte sie es aus Mitleid getan oder weil sie sich etwas davon versprochen hatte? Oder hatte ihr ach so väterlicher Freund sie in Wahrheit verführt, ohne dass sie es bemerkt hatte?
    All das war möglich, eine eindeutige Antwort schien es nicht zu geben. Dennoch kam Serena sich dumm vor, naiv und ausgenutzt. Natürlich schwelte Zorn in ihrem Herzen, und eine Zeitlang hatte sie erwogen, sich zu rächen, indem sie die städtischen Behörden über den grausigen Kellerfund in Kenntnis setzte; aber sie hatte keinen Beweis für ihre Behauptung, und Serena gab sich keinen Illusionen darüber hin, wem die Stadtbeamten glauben würden, einem Dienstmädchen von außerhalb oder einer Familie von hohem englischem Adel.
    Ob es ihr gefiel oder nicht: Alles, was ihr blieb, wenn in kalten Nächten rauer Ostwind um die Häuser strich und sie zusammen mit den vielen anderen unter Brücken oder in engen Nischen Zuflucht suchte, war die Erinnerung an Oltrarno und den Traum von einem anderen, besseren Leben.
    Und der kleine Gegenstand, den sie in den Saum ihres Kleides eingenäht hatte, damit er nicht gestohlen wurde oder verloren ging. Es war der Ring, den der Herzog ihr geschenkt hatte.
    Serena wusste nicht, wie wertvoll er tatsächlich war, aber sie nahm an, dass sie dafür viele sättigende Mahlzeiten bekommen würde. Bislang hatte sie es nicht über sich gebracht, das Kleinod zu verkaufen, weil es ihre einzige Verbindung zu jenem anderen, besseren Leben war, das sie für kurze Zeit hatte genießen dürfen; wenn die Not jedoch unerträglich wurde, würde sie damit zu einem der Händler auf der Brücke gehen und es gegen bares Geld eintauschen. Manchmal fragte sie sich, warum sie es nicht längst getan hatte – so auch an diesem Morgen, als sie aus unruhigem Schlaf erwachte.
    Erbärmlich frierend, drängten sich die Armen zu Dutzenden unter der Brücke. Es war kalt und stank nach Fäulnis und Exkrementen. Allenthalben wurde gehustet, da viele der Obdachlosen rachitisch waren und an Schwindsucht litten, hier und dort gab es Streit um ein paar Krumen Brot, die jemand tagsüber erbeutet hatte.
    Serena richtete sich auf. Die Decke, in die sie sich nachts zu hüllen pflegte und die ihr tagsüber als Umhang diente, starrte vor Schmutz und roch entsetzlich, aber sie hielt sie wenigstens warm, und das war mehr, als die meisten anderen von sich behaupten konnten. Ihre Knochen schmerzten von den Ufersteinen, auf denen sie gelegen hatte, also streckte sie sich, um die Kälte der Nacht aus ihren Gliedern zu vertreiben. Eine Ratte, die vor ihr auf einem Haufen Unrat kauerte, sah ihr dabei zu und unternahm keine Anstalten zur Flucht. Vermutlich, weil sie keinen Unterschied sah zwischen sich und all den anderen grauen und stinkenden Gestalten, die die Uferbank bevölkerten.
    Die Übelkeit kam schlagartig.
    So rasch, dass Serena nichts dagegen tun konnte. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sorgte dafür, dass sie sich vornüberbeugte. Im nächsten Moment lief die karge Mahlzeit, die sie am Abend zu sich genommen hatte und die aus etwas Brot und Fisch aus der Armenspeisung der Kathedrale bestanden hatte, aus ihr heraus. Der Geruch des Erbrochenen sorgte dafür, dass weitere Krämpfe sie schüttelten, doch ihr Magen war

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