Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
leer.
Erschöpft sank Serena nieder, noch immer von Krämpfen gepeinigt. Was hatte dies zu bedeuten? Warum wurde sie stets am frühen Morgen von solcher Übelkeit befallen? Hatte sie sich bei den anderen angesteckt? Würde sie daran zugrunde gehen?
»Uuuh, Mädchen«, krächzte plötzlich eine Stimme neben ihr. Sie gehörte einem zahnlosen alten Weib, das ihr schon öfter aufgefallen war. Vermutlich war ihr Mann gestorben und ihre Ehe kinderlos geblieben, sodass niemand mehr für ihren Unterhalt sorgte und sie nun auf der Straße leben musste. »Das scheint mir recht eindeutig zu sein.«
»Was meinst du?« Serena sah sie verständnislos an.
»Du kotzt jeden Morgen, und das schon seit Tagen«, feixte die Alte. »Ich habe es beobachtet.«
»Und?«, fragte Serena gereizt.
»Ist das nicht offensichtlich?« Ein hexenhaftes Kichern drang aus dem zahnlosen Mund.
»Was?«, verlangte Serena fast flehend zu wissen. »Was stimmt nicht mit mir?«
»Das solltest du den Kerl fragen, der dir das Balg gemacht hat«, gab die Alte kichernd zur Antwort.
»Den … den Kerl?«
»Du bist schwanger, Mädchen. Das sehen sogar die Blinden da drüben.«
Serena wollte widersprechen, stattdessen hielt sie einen Augenblick inne und dachte nach. In all den Tagen, seit sie aus dem Palazzo gejagt worden war, war sie so damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben, dass andere Dinge völlig unwichtig geworden waren. Deshalb hatte sie übersehen, dass ihre Regel ausgeblieben war. Und das konnte nur eines bedeuten …
»Siehst du?« Der zahnlose Mund dehnte sich zu einem breiten Grinsen. »Ich habe recht, oder?«
Serena nickte wie vom Donner gerührt.
Sie erwartete ein Kind.
Von ihm …
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11
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Edinburgh
Nachmittag des 28. Februar 1826
»Was hast du?«
Brighids Frage riss Mary aus den Gedanken, denen sie nachgehangen hatte, während sie im Salon beim Tee saßen. Das Feuer, das im Kamin brannte, um die klamme Kälte fernzuhalten, warf unstete Schatten an die Wand.
»Verzeih«, erwiderte sie, »ich wollte nicht abwesend erscheinen. Ich musste nur an das Gespräch denken, das ich mit Quentin hatte. Ich habe versucht, ihm von deiner Entdeckung zu erzählen, von deiner Erinnerung an den Prinzen. Aber er …«
Brighid stellte die Tasse aus feinem China-Porzellan, an der sie vorsichtig genippt hatte, auf den kleinen Tisch zurück und ergriff stattdessen Marys Hand. »Du darfst ihm deshalb nicht zürnen«, bat sie. »Dein Ehemann ist in diesen Tagen mit vielen anderen Dingen befasst.«
»Das weiß ich«, versicherte Mary. »Ich wollte auch nicht, dass er mir hilft, sondern einfach nur zuhört. Ich wollte seine Meinung in dieser Sache hören. Aber die Art und Weise, wie er mein Ansinnen zurückgewiesen hat …«
»Du bist verletzt«, stellte Brighid fest.
»Ein wenig«, gab Mary zu. »Ich meine, ich weiß, dass er sich um vieles kümmern muss, und ich möchte ihn auch nicht mit zusätzlichen Problemen belasten. Aber früher hatte er stets ein offenes Ohr für mich. Wir haben Stunden damit zugebracht, einfach nur zu reden und einander zuzuhören.«
»Das klingt schön.« Brighid lächelte. »Es muss wundervoll sein, einen solchen Menschen zu haben.«
»Das ist es«, stimmte Mary zu. »Aber er hat sich verändert, genau wie ich. Alles scheint sich zu ändern in diesen Zeiten. Bisweilen weiß ich nicht mehr, wer ich bin.«
»Dann haben wir etwas gemeinsam«, erwiderte Brighid und machte Mary damit klar, wie unbedacht ihre Worte gewesen waren.
»Verzeih«, bat sie. »Wie unsensibel von mir, mich mit dir zu vergleichen, wo du doch unendlich mehr verloren hast.«
»Habe ich das?« In den Augen der Freundin funkelte es. »Vielleicht habe ich ja auch etwas gewonnen.«
»Und das wäre?«
»Meine Freiheit«, entgegnete sie. »Seit meiner Entdeckung hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, dass ich mich auf diesem Schiff wiederfand, dürfte es wohl kaum besonders gut mit mir gemeint haben. Was auch immer ich in meinem früheren Leben getan habe, ich scheine der Willkür anderer ausgeliefert gewesen zu sein, und ich möchte nicht, dass dies jemals wieder geschieht. Ich mag nicht wissen, wer ich bin, aber ich weiß, wer ich niemals sein möchte. Ich möchte mich nicht unterordnen müssen, möchte die Herrin meiner eigenen Entscheidungen sein.«
»Das klingt sehr gut.« Mary lächelte. »Ein schöner Traum.«
»Die Wirklichkeit«, widersprach Brighid, die tatsächlich Geschmack an ihrem
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