Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
ungewissen Zustand zu finden schien – oder täuschte sie dies nur vor, weil sie niemanden belasten wollte?
»Du erinnerst dich also noch immer nicht?«, hakte Mary nach.
»Nein.« Brighid schüttelte den Kopf. »Der Mann auf dem Bild ist alles, was mich mit meiner Vergangenheit verbindet, und auch ihm bin ich wohl nicht im wirklichen Leben begegnet, sondern nur in meinen Träumen.«
»Träume können sehr stark sein, besonders wenn sie von ganz innen kommen«, versicherte Mary und deutete dabei auf ihre Brust. »Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Tatsächlich?« Brighid legte den Kopf schief und blickte sie wissbegierig an. »Was genau ist damals geschehen? Willst du es mir erzählen?«
Mary griff nach ihrer eigenen Tasse und nahm einen Schluck, während sie über die Frage nachdachte. Sie hatte nie zu einem Außenstehenden über die Geschehnisse von damals gesprochen, über die dramatischen Ereignisse, in deren Zuge sie Walter Scott und seinen Neffen Quentin kennengelernt hatte und sie gemeinsam in das Komplott der verbrecherischen Runenbruderschaft geraten waren. Und sie hatte auch nie das Bedürfnis gehabt, sich an all diese Dinge zu erinnern. Bis zum heutigen Tag.
»Du musst wissen, dass ich nicht immer die Ehefrau eines einfachen Schreibers gewesen bin«, erklärte sie dann, und noch während sie die Worte aussprach, tat ihr die Formulierung leid. Es war, als wollte sie sich an Quentin rächen, dabei hatte sie dazu weder Grund noch Anlass. »Tatsächlich bin ich von Adel und sollte nach dem Willen meiner Familie den Laird Malcolm of Ruthven heiraten.«
»Aber dazu ist es nicht gekommen«, mutmaßte Brighid.
»Nein.« Mary lächelte. »Ich war noch sehr jung damals und voller Ideale. Und ich hatte meine Nase ständig in Büchern – vor allem in denen Sir Walter Scotts.«
»Und dann hast du Sir Walter persönlich getroffen?«
»In der Tat. Es war während der Reise zu Ruthvens Schloss, wo ich meinen zukünftigen Ehemann treffen sollte.« Marys Lächeln verschwand schlagartig. Es war, als würde sich ein dunkler Schatten über ihre Erinnerungen breiten. »Auch seine Mutter war dort. Ihr Name war Eleonore, und sie war wohl das, was man böse nennt. Sie wollte etwas aus mir machen, das ich nicht war, und dazu war ihr jedes Mittel recht. Sie schreckte auch nicht davor zurück, mich meiner Freiheit zu berauben und unter Arrest zu stellen. Und dort fand ich sie.«
»Was hast du gefunden?«
»Die Aufzeichnungen einer jungen Frau, die vor sechshundert Jahren gelebt hat. Ich begann sie zu lesen und verstand, dass ich dieser Frau auf eine gewisse Weise verbunden bin … jedenfalls glaubte ich damals, dies zu verstehen. Heute bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Denn es würde bedeuten, dass es einen Plan gibt, dass nichts aus Zufall und alle Dinge aus einem bestimmten Grund geschehen. Und daran zweifle ich inzwischen.« Sie zwinkerte die Tränen fort, die ihr in die Augen getreten waren.
»Diese junge Frau … was ist mit ihr geschehen?«, wollte Brighid wissen.
»Sie erlitt ein düsteres Schicksal, das mir erspart blieb – ganz einfach deshalb, weil sie mich gewarnt hatte, und das so viele Jahrhunderte zuvor.«
»Wie ist das möglich?«
»Meine Lage ähnelte der ihren, und auch unsere Feinde ähnelten einander. Wenn du mich fragst, ob es Zufall war oder Bestimmung, so vermag ich es nicht zu sagen. Aber sie hat mir das Leben gerettet.«
»So wie du mir das meine«, erwiderte Brighid ohne Zögern. »Du hattest völlig recht, als du sagtest, wir hätten viel gemeinsam. Wir sind beide entwurzelt und wissen nicht wohin. Wir sind beide an Dinge gebunden, deren Wesen wir nicht durchschauen. Und beide fühlen wir uns unverstanden und sind im Grunde ganz allein.«
»So weit möchte ich nicht gehen«, wandte Mary ein. »Quentin mag einfacher Herkunft sein und sich bisweilen wie ein Tölpel benehmen, aber er würde mich niemals im Stich lassen.«
»Bist du dir da ganz sicher?« Brighid rückte ein wenig näher an sie heran. »Vielleicht brauchst du die Unterstützung von jemandem, der dich wirklich versteht. Von jemandem, der dir ebenso helfen kann wie damals jenes Mädchen aus der Vergangenheit.«
»Das wäre wunderbar«, erwiderte Mary und fühlte sich ihr in diesem Augenblick so freundschaftlich verbunden wie nie zuvor. Sie fassten einander bei den Händen, und ihre Blicke trafen sich. Und so langsam, dass es kaum wirklich zu bemerken war, bewegten sich ihre Münder aufeinander zu.
Es kam Mary nicht
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