Das Vermächtnis der Schwerter
Fluchttunnel liegt, aber jetzt weiß ich sowieso, wohin es geht, also kannst du mir doch ruhig einen kleinen Blick gewähren. Schließlich werde ich jetzt das letzte Mal ein bisschen Grün zu sehen bekommen, oder?«
Es dauerte einen kurzen Moment, dann fuhr auf einmal eine Schwertspitze durch das Sackgeflecht und hätte ihm um ein Haar die Nase in zwei Hälften gespalten. Rai blieb erschrocken stehen, während Nessalion den Schlitz im Sack so weit erweiterte, dass der Tileter wenigstens den Kopf durch die entstandene Öffnung stecken konnte.
»Du weißt also, wo ich dich hinbringe«, bemerkte Warsons Vater, als er seinen Marsch in Richtung Bergwerk fortsetzte und Rai unsanft hinter sich herzog.
»Nun ja«, antwortete dieser zögerlich. Dabei ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen und musste feststellen, dass sie bereits wieder die dichten Wälder des Inselinneren erreicht hatten und es bereits zu dämmern begann. »Ich habe deinen Streit mit Ferrag vor meiner Zelle mit angehört. Dabei kam ich in den Genuss, zu erfahren, was du mit mir vorhast.«
»Du sollst das gleiche Schicksal erleiden wie mein Sohn«, zischte Nessalion. »Du wirst deine letzten Tage in der Finsternis der Mine fristen, Rötelbrocken schleppen und das Licht des Tages allenfalls durch den fernen Spalt in der Höhlendecke erblicken. Sieh dich nur satt an der grünen Pracht um dich herum, bald wird kahler Stein dein einziger Gefährte sein.«
Rai horchte auf. Es keimte die Hoffnung in ihm, dass seinen Begleiter der Verstand so vollständig verlassen hatte, dass er den Fluchtweg aus der Mine vergaß.
»Du wirst mich einfach allein in die Mine hinablassen und dann verschwinden?«, erkundigte sich Rai mit gespieltem Entsetzen.
Nessalion wandte ihm abrupt den Kopf zu. »Du denkst wohl, ich wäre einfältig?« Seine Stimme bebte gefährlich. »Ich bin nicht so unbedarft wie mein Sohn, den du auf so schändliche Weise ausnutzen konntest! Natürlich werde ich mit dir in die Mine steigen und dich persönlich beaufsichtigen, damit du nicht durch den Hinterausgang der Mine entwischst. Und ich werde mich davon überzeugen, dass du auch wirklich bis zu deinem letzten Atemzug Rötel zu schleppen hast, genauso wie Warson dein Bündel getragen hat, bis ihn deswegen der Tod ereilte.«
»Aber es war doch Ulag, der deinen Sohn umgebracht hat, nicht ich«, protestierte Rai diesmal in echter Verzweiflung. »Ich hatte Warson doch nur um einen kleinen Gefallen gebeten, damit ich und Barat nicht verhungern! Ich konnte doch unmöglich ahnen, welche Folgen das haben wird.«
Nessalion blieb stehen, sodass auch Rai anhalten musste, wenn er nicht mit seinem Entführer zusammenstoßen wollte. »Du hast seine Gutgläubigkeit missbraucht«, fauchte dieser ihn an. »Du hast ihn stellvertretend für dich in die Gefahr geschickt, weil du dich davor gefürchtet hast!«
Rai kam nicht umhin, diesen Worten zumindest teilweise recht zu geben. »Aber für Warson war das Risiko, entdeckt zu werden, doch viel geringer als für mich«, entgegnete er daher nur halbherzig.
Ein galliges Lachen drang aus Nessalions Kehle. »Auch ein kleiner Stein ist immer noch zu groß, wenn dir jemand damit den Schädel einschlägt. Vielleicht hatte mein Sohn ja nur Pech, von Ulag entdeckt zu werden. Aber es steht fest, dass dieses Monster nichts entdecken hätte können, wenn Warson nicht dein Bündel getragen hätte. Und wie kommst du überhaupt dazu, einfach das Leben meines Kindes aufs Spiel zu setzen, als wäre es eine Münze beim Würfeln? Aber du wirst deine Schuld begleichen, dafür werde ich sorgen.« Wütend riss Warsons Vater an Rais Fesseln und setzte sich wieder in Bewegung.
Der kleine Tileter wollte widersprechen und suchte verzweifelt nach den geeigneten Worten, um zu widerlegen, was Nessalion gesagt hatte, aber – er fand keine. Ihm fiel nichts mehr ein, was er zu seiner Verteidigung noch hätte vorbringen können. Im Grunde sprach Nessalion die Wahrheit. Aber war sein Verhalten wirklich so abscheulich gewesen, dass er dafür zu sterben verdiente?
»Wahrscheinlich kannst du überhaupt nicht ermessen, was du mir damit angetan hast«, begann Nessalion nach einer Weile von Neuem zu sprechen. Hin und wieder wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen. »Warson war das Einzige, was ich noch hatte. Seine Mutter, möge Xelos sie in seiner Halle willkommen heißen, ist schon von uns gegangen, als er noch ganz klein war. Ich musste dann zusehen, wie wir über die Runden
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