Das Vermächtnis der Wanderhure
doch dieser schreckte vor der hüftlangen Tunika zurück, unter der er eng anliegende Strümpfe hätte tragen sollen. Stattdessen wählte er ein bodenlanges Gewand aus blau gemustertem Damast, das der Tracht seiner Heimat ähnlich war, sowie einen hohen Hut mit einerFeder. Am liebsten hätte er den Waffenrock und seine Rüstung anbehalten, doch in diesem Aufzug konnte er nicht vor einem Grafen oder Fürsten erscheinen.
Die Tage in Augsburg waren wie ein letztes Luftholen vor dem Sprung. Als sie weiterreisten, war der Herbst nicht mehr fern, und Marie fühlte, wie ihr die Zeit unter den Fingernägeln verrann. Es gab noch so viel zu tun, doch das würde ihr kaum noch vor der kalten Jahreszeit gelingen. Dieser Gedanke quälte sie während jeder Meile, die sie zurücklegten. Als sie über Donauwörth und Weißenburg schließlich Nürnberg erreichten, fühlte Marie sich völlig niedergeschlagen, und auch der Anblick der Burg, die sich über der Stadt erhob, konnte ihre Stimmung nicht heben. Die Festung wirkte stark mitgenommen, obwohl die Ausbesserungsarbeiten in vollem Gang waren und einige Trakte bereits wiederhergestellt zu sein schienen.
Marie erinnerte sich, dass die Burg Jahre vorher bei einer Fehde zwischen den Herzögen von Oberbayern und Niederbayern, an der der Nürnberger Burggraf teilgenommen hatte, so in Mitleidenschaft gezogen worden war, dass Herr Friedrich sie nicht mehr hatte aufbauen wollen. Kaiser Sigismund hatte die Ruine schließlich in seiner Eigenschaft als oberster Lehnsherr an die Bürgerschaft der Stadt Nürnberg verkauft, um die Wiederherstellungskosten zu sparen. Wie es aussah, hatten die Nürnberger sich sofort an die Arbeit gemacht. Dies war in Maries Augen auch nötig, da Kaiser Sigismund Nürnberg immer wieder durch seine Anwesenheit auszeichnete und dabei seinem Stand gemäß untergebracht werden wollte.
Von einem der Wächter am Stadttor, den eine Münze gesprächig machte, erfuhr Marie, dass Kaiser Sigismund vor wenigen Tagen in Nürnberg eingetroffen war, um sich mit seinem Schwiegersohn Albrecht von Habsburg und anderen Großen des Reiches zu beraten. Der Kaiser würde nicht lange in der Stadt bleiben, da er nach Ungarn zurückkehren müsse. Marie fiel bei dieser Auskunftein Felsblock vom Herzen. Sigismund war genau der Mann, den sie brauchte, und sie winkte den Handelsleuten, anzuhalten.
»Wir gehen zur Burg hoch«, erklärte sie kurz angebunden.
Gelja und Alika waren gewöhnt, ihr zu gehorchen, und stiegen sofort ab. Unten hoben sie Egon und Wladimir vom Wagen und sahen Marie erwartungsvoll an. Anastasia ließ sich mit Zoe in den Armen von Andrej herabhelfen, und so setzte Marie Lisa auf ihre Hüfte und ging den anderen voran. Um das Gepäck kümmerte sich Hannes, der den Dienst gewechselt hatte und nun einige seiner Nürnberger Landsleute heranholte, die ihm helfen sollten.
Mit jedem Schritt fühlte Marie sich tiefer in die Vergangenheit zurückversetzt. Es war zwar noch keine drei Jahre her, seit sie mit Michel aus Böhmen zurückgekehrt war, aber nach allem, was sie hatte durchmachen müssen, kam es ihr vor, als läge ein halbes Leben dazwischen.
Die Wachen am Burgtor wunderten sich, Damen und einen Herrn von Stand zu Fuß auf sich zukommen zu sehen. Einer von ihnen kannte Marie von ihrem letzten Aufenthalt und starrte sie an wie einen Geist. Im ersten Augenblick öffnete er den Mund und wollte seiner Verwunderung Ausdruck geben, schloss ihn dann aber mit einem hörbaren Plopp. Diese Sache war zu hoch für ihn. Sollten sich doch die hohen Herren selbst um die Verwicklungen kümmern, die die Rückkehr einer Totgeglaubten heraufbeschwören musste. Mit einem schiefen Grinsen erinnerte er sich daran, wie der Kaiser den Ehemann dieser Dame vor einem Jahr neu verheiratet hatte, weil Frau Marie im Rheinstrom umgekommen sein sollte. Für eine Wasserleiche sah sie recht lebendig und vor allem sehr energisch aus.
Der Mann winkte seinen Kameraden, Marie und ihrer Begleitung den Weg freizugeben, und unterließ es zu deren Verblüffung, die Herrschaften durch einen Boten ankündigen zu lassen.Doch die Überraschung, die die Rückkehr der ersten Ehefrau des Reichsritters Michel Adler auf Kibitzstein auslösen musste, wollte der wackere Wächter weder dem Kaiser noch den anderen hohen Herren in der Burg ersparen.
Marie überquerte den Hof und hielt auf den Haupteingang des Wohngebäudes zu. In der Tür kam ihr einer der Kammerherren des Kaisers entgegen. Seine Stirn verdüsterte sich,
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