Das Vermaechtnis des Caravaggio
nach vorne fallende Haltung und die schwarze
Kleidung kamen ihr bekannt vor. Aber es war, als würde ein Schleier ihre
Erinnerung verbergen. Erst als er sie aus dunklen Augen ansah und dabei kurz
sein Profil gegen die offene Tür zu sehen war, begann sie zu ahnen.
„Setzt Euch“, bat der Fremde mit
einer einladenden Geste. „Ihr seid ...?“
„Nerina. Modell und Malerin bei
Caravaggio!“
Der Fremde presste die Lippen
aufeinander, dann lächelte er schmal.
„Trinkt Ihr Wein? Verdünnt oder
pur? Wirt, eine Karaffe und einen Krug mit Wasser. Brot dazu und etwas
Schinken.“
Nerina war überrascht von der
Bestellung.
„Ihr habt nicht einmal meine
Antwort abgewartet, Signore.“
Der Fremde erhob sich etwas,
deutete eine Verbeugung an und erklärte:
„Verzeiht. Enrico,
Kunstverständiger und Erzieher für den Herzog von Mantua. Zurzeit hier in Rom
mit meinem Schützling, Ferdinando Gonzaga.“
Jetzt erinnerte sich Nerina, wo sie
den Fremden schon einmal gesehen hatte. Er war neben der Sänfte der Gonzaga
hergelaufen und hatte wie ein Pantalone lächerlich gestikuliert und geredet.
Heute war er ihr keineswegs lächerlich erschienen. Mit Geschick und Mut hatte
er Michele aus einer höchst peinlichen Situation befreit. Sie schätzte ihn nur
wenig älter als sich selbst, zweiundzwanzig, vielleicht jünger. Sein Kinn umgab
ein bläulicher Schleier, der von starkem Bartwuchs zeugte, die Augenwinkel
zeigten kleine Krähenfüße, die deutlich auf ein humorvolles Gemüt verwiesen,
und seine dunklen, wachen Augen, beinahe so schwarz wie sein Haar, musterten
sie neugierig. Am meisten faszinierten sie aber seine Hände, die so schmal und
feingliedrig waren, dass man Angst bekam, sie würden brechen, wenn man sie
schüttelte, und mit denen er doch kräftig zupacken konnte.
An ihnen vorbei schlüpfte ein Mann,
der in dunkles Leinen gehüllt war. Nerina sah kurz hoch, konnte aber das
Gesicht nicht erkennen. Nur der Geruch, der seiner Kleidung entströmte, hatte
etwas beängstigend Vertrautes. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, aber sie
hatte keine Zeit, sich der Gestalt zu vergewissern, da sie eine Hand auf der
ihren spürte.
Sie sah ihr Gegenüber an, dann zog
sie vorsichtig ihre Hand zurück. Sie wollte diese Vertraulichkeit nicht.
„Vielen Dank auch, dass Ihr rechtzeitig
eingegriffen habt. Ihr müsst wissen, Michele reagiert etwas aufbrausend. Die
Gedanken, die ihn zu seinen Bildern treiben, machen ihn zu einem kurzwilligen
Menschen.“
Enrico sah unverwandt auf ihre Hände,
die mit Farbspuren bedeckt waren, folgte ihrem Finger, der mit einer Pfütze
Wein auf dem Tisch spielte, sagte aber nichts. Er schien zu warten, worauf, wusste
Nerina nicht. Vielleicht überlegte er sich auch nur einen ersten Satz. Der
Gedanke daran ließ sie lächeln. Erste Sätze zu denken war schwierig, sie
auszusprechen beinahe unmöglich, in einer solchen Situation mit einem ersten
Satz zu beginnen, ging über alle Kräfte. Vor allem, wenn man ein Mann war.
Ihre erste Liebe vor Jahren, das wusste
sie, war an eben dieser Hürde gescheitert. Als sie mit ihren Zieheltern in
Florenz unterwegs gewesen war, war ihr ein Junge nachgegangen. Von fern hatte
er sie beobachtet, ihr nachgeschmachtet, ohne sich zu nähern. Fortwährend hatte
er sie belauert und an den Straßenecken auf sie gewartet. Aber nie hatte er ihr
sein Interesse an ihr gestanden, immer war er über und über kupfern angelaufen,
wenn sie sich begegnet waren. Als sie sich selbst einmal das Herz genommen und
ihn angesprochen hatte, war er davongelaufen, als hätte er mit dem Teufel
persönlich gesprochen. Seit damals war er ihr aus dem Weg gegangen, und auch
ihre Liebe zu ihm hatte sich verflüchtigt.
„Ihr braucht nichts zu sagen“,
wollte sie Enrico den Einstieg erleichtern.
Der hob nur den Kopf, betrachtete sie
eine Weile. Sie hatte das Gefühl, als würde er sich an ihren Augen festsaugen,
als würde er ihr mit diesem Blick ein Mal in den Augenhintergrund brennen
wollen. Nerina wurde verlegen, wich dem Blick aus.
„Wir müssen miteinander reden,
Nerina. Ich glaube, Caravaggio ist ernstlich in Gefahr!“
Nerina zuckte zusammen und sah
hoch. Sie fühlte, wie sich ihre Pupillen weiteten. Bevor sie etwas sagen
konnte, füllte plötzlich der Klang einer Glocke den Raum, tief und grollend.
Immer mehr Kirchengeläute fielen darin ein, bis ein Teppich aus Klang die Stadt
überdeckte.
„Der Papst ist tot!“, drangen von
außerhalb der Osteria die Rufe ins Innere. Die
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