Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Gletschern widerspiegelte.
»Warst du bei Ong Pa?«
»Ja, bevor ich hierherkam. Die Mönche bereiten sich darauf vor, sie zu empfangen. Sie werden den schmalen Durchgang am Gönpa mit Steinen verschließen, damit jeweils nur ein einzelner Mann hindurchgehen kann. So wird es schwieriger werden, zu ihnen zu gelangen. Zu ihrer Verteidigung werden sie dann die Bären herbeirufen. Du weißt ja, wie sie sind: nicht bösartig, aber wenn man sie angreift und sie Hunger haben, dann können sie eine ganze Armee auseinandertreiben. Eine letzte Sache noch: Ong Pa möchte, dass du mit Gaya, Yuehan und Gua Pa zu ihm kommst. Ich hingegen werde mich unter das Volk mischen. Ich habe das richtige Aussehen und werde Guangwu huldigen und den Soldaten zu trinken geben. So werde ich erfahren, wann sie wieder gehen und was sie vorhaben.«
»Ich würde es vorziehen, wenn du mit uns kämst.«
»Einer muss bleiben, um sie im Auge zu behalten, und das kann nur ich sein. Sayed weiß, wann der Moment gekommen ist, in dem man bezahlen muss. Er kann blitzschnell auftauchen und genauso schnell wieder verschwinden – wie ein Murmeltier in seinen Bau.«
Īsā ließ seinen Blick ins Tal schweifen. Die Pfade waren voller Staub, und aus der Wolke erhob sich das gelbe Banner mit dem roten Drachen der Han. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und er schüttelte seinen Kopf. Das Kundalini, sein inneres Feuer, war in ihm erwacht und machte ihm die Gegenwart und die Zukunft bewusst. Eine Vorahnung breitete sich in seinem Geist aus, und er begann zu zittern.
»Mein Freund, ich fürchte, dass es zu spät ist, du süßes Murmeltier.« Īsā zeigte Sayed die herannahenden Pferde. »Vielleicht sind sie dir gefolgt, und vielleicht stand es irgendwo so geschrieben, dass sie dir folgen. Nur hast du es nicht gelesen.«
Gua Li beendete ihre Erzählung, die ihr nur noch flüsternd über die Lippen gekommen war. Ferruccio, den ihre Stimme eingelullt hatte, hatte nur wenige Sätze ihrer Erzählung wahrgenommen, und für sich alleine wollte sie die Geschichte nicht zu Ende erzählen – sie war zu grausam: In ihrem Geist sah sie das brennende Haus, den verzweifelt rennenden Jesus, den Anblick der Toten und Verletzten und die Lanze, die Mutter und Tochter zusammen durchbohrt hatte. Ein einziger Stoß für beide. Und Gaya – die schützend die kleine Gua Pa in einer letzten Umarmung umarmt hatte, um sie zu verteidigen. Und dann hörte sie den Schrei, die Stille und das Weinen. Dann spürte sie die absurde Freude, die Arme Yuehans zu spüren, die sich um ihn schlangen, und die Tränen, die Jesus über die Brust liefen.
Als Ferruccio erwachte, sah er verwundert, dass Gua Lis Augen rot glänzten, doch zugleich spürte er ihre Hand wie eine heilende Salbe auf seiner Stirn. Er tauchte tief ein in die schwarzen Pupillen dieser jungen Frau, er verlor sich in ihnen und wurde in eine Zeit ohne Zeit hineinkatapultiert. Gua Li atmete tief ein. Plötzlich erinnerte sie sich an Vergangenes und Gegenwärtiges und ahnte, dass eine neue Zeit des Todes angebrochen war.
33
Rom, in der Engelsburg,
31. Oktober 1497
»Was wollt Ihr von Uns, Medici? Habt Ihr eine so schwerwiegende Verfehlung zu beichten, dass nur der Pontifex Euch davon entbinden kann? Oder seid Ihr erschienen, um mir die Schlüssel von Florenz auszuhändigen, die Ihr Savonarola aus seinen Beinkleidern entwendet habt?«
»Eure Heiligkeit, ich würde es sehr zu schätzen wissen, mit Euch alleine zu sein.«
Alexander VI. schaute sich erstaunt um und tat so, als würde er niemanden im Raum sehen. Er breitete die Arme aus. Giovanni de’ Medici stützte sich mit seinen Ellbogen auf die Sessellehne und verbarg seinen Kopf zwischen den Händen, um das Grinsen zu verbergen. Er stellte sich gerade vor, wie es wohl sein müsste, wenn er in der Haut des Sekretärs steckte, der vollkommen bewegungslos in der Ecke stand und sein kleines schwarzes Büchlein, von dem er sich nie trennte, umklammerte. Giovanni Burcardo zuckte kurz und verfiel augenblicklich wieder in Starre. Eines Tages würden ihm seine Notizen entweder das Leben retten oder für seinen Untergang sorgen.Er war ein Niemand – aber vielleicht hatte er ja genau deshalb vier Päpste überlebt. Er wartete und versuchte, noch unauffälliger zu atmen. In den letzten Jahren hatte er gelernt, nicht mit dem eigenen Kopf zu denken oder zu handeln, sondern nur das zu tun, was sein Dienstherr anordnete.
»Burcardo, bist du taub oder unsichtbar? Hast du nicht gehört,
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