Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
dass deine Präsenz dem Fürsten der Kirche Ungemach bereitet? Wer bist du, dass du dich seinem Willen widersetzt? Also verschwinde«, befahl Alexander VI., »und zwar hurtig. Und lausch nicht wieder an der Tür.«
Mit raschelnden Gewändern eilte Burcardo davon. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, wandelte sich der Gesichtsausdruck des Papstes.
»Der Freibrief, den Wir Euch erteilten, ist seit einer Woche abgelaufen, und doch seid Ihr noch hier. Ihr widersetzt Euch Unserer Autorität.«
»Ich erflehe Euer Wohlwollen«, korrigierte ihn der Kardinal. »Ich vertraue auf Eure Güte und Euer Interesse an der Heiligen Römischen Kirche.«
»Kommt zur Sache.«
Giovanni erhob sich und verschränkte seine Arme in den weiten Ärmeln seines purpurnen Gewandes. Er entfernte sich ein paar Schritte vom Pontifex und stellte sich mit dem Rücken ins Gegenlicht vor das Fenster, sodass der Papst zwar seinen Umriss erkennen konnte, aber nicht seinen Gesichtsausdruck – während er den Heiligen Vater sehr wohl beobachten konnte.
»Vor zehn Jahren konnte Euer Vorgänger einen zerstörerischen Angriff auf die Kirche, nämlich die Veröffentlichung der neunhundert Thesen des berühmten Grafen Mirandola, abwehren. Das Konzil, das der Edle Herr in Rom abhalten wollte …«
»Wir kennen die Geschichte besser als Ihr. Ihr wart damals noch ein Kind.«
»Ihr habt recht, doch die dunklen Kräfte der Unterwelt liegen noch immer auf der Lauer, und Erzengel Michael muss allzeit mit seinem Feuerschwert bereit sein.«
» Perra tu madre!« Alexander schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe es Euch bereits gesagt, Medici, missbraucht nicht meine Geduld. Seht Ihr diese Uhr? Sie ist wertvoll, sie kommt direkt von den Meistern aus Genf, und sie ist ein Geschenk des Philipp von Savoyen. Sie misst unerbittlich die Zeit – genau wie der Tod. In exakt einer Stunde werdet Ihr diese Angelegenheit beendet haben oder so lange Gast der Engelsburg bleiben, bis Florenz Eure Sippe vergessen hat.«
»Ich komme auf den Punkt. In verschiedenen französischen Druckwerkstätten ist das Traktat De falso credita et ementita Constantini donatione des Dottore Valla für den Druck und die Verbreitung bereit. In dieser Schrift wird bewiesen, dass die Besitztümer der Heiligen Römischen Kirche …«
»Die Zeit läuft, Medici!«, unterbrach ihn der Papst eisig. »Auch das ist Uns bekannt. Allerdings fürchten Wir, dass die Stunde Eures Todes naht. Und Wir erinnern Euch daran, dass Lorenzo Valla sein Haupt vor der heiligen Inquisition beugte und ihm verziehen wurde. Doch das wird nicht ausreichen, denn die Kirche vergisst nie.«
»Das war nur eine Präambel, Eure Heiligkeit, und nun introibo ad altarem dei, nun nähere ich mich dem Altar Gottes.«
Die Stimme Giovannis de’ Medici zitterte nicht einen Augenblick, während er dem Oberhaupt der Christenheit und des Hauses Borgia über seine Vereinbarung mit dem Sultan der Türken erzählte und über die beiden Personen berichtete, die er an seinem Hofe aufgenommen hatte. Er sprach ohne erkennbare Furcht über das Vermächtnis, das die Fremden überbracht hatten. Jenes erste Geheimnis, das von Giovanni Pico della Mirandola initiierte verfluchte Konzil, das die drei monotheistischen Religionen vereinen und die weibliche Essenz der Gottheit aufdecken sollte, war in Vergessenheit geraten und stellte mittlerweile keine Bedrohung mehr für die Kirche dar. Doch es gab noch ein zweites, weitaus schlimmeres Geheimnis. Ein Geheimnis, das nichts weniger als die Lebensgeschichte des Gottessohnes betraf. Vielleicht würde das Volk nicht sofort verstehen; vielleicht würden erst einige Jahre ins Land gehen müssen, bevor die Gläubigen erkannten, dass man ihnen jene zwanzig Jahre aus der Biografie des Jesus von Nazareth unmöglich vorenthalten durfte, die die Kirche gestrichen hatte. Und wenn jene Schriftteile irgendwie auftauchten, würde irgendjemand davon profitieren, und garantiert würde auch irgendjemand ein neuesEvangelium predigen. Ein neues Evangelium, das – kurz gesagt – der Wahrheit entsprach.
Dem einfachen Volke, so war die Meinung des Kardinals, würde die Menschlichkeit Jesu noch größer erscheinen, wenn sich herausstellte, dass er nicht der Sohn Gottes, sondern der Sohn irgendeines einfachen Mannes wäre. Dann würde ihn das Volk nicht länger als Angst einflößende Figur sehen, als fordernden, rächenden Sohn eines grausamen Gottes, der das Volk demütigte und unterwarf, sondern als einen
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